20. September 2010

Von Kirchturm zu Kirchtum

Ich sitze im Aufenthaltsraum der Segelflugschule Hornberg auf der Ostalb, nicht weit von Stuttgart entfernt, und blicke durch eine breite Scheibenfront auf die Piloten, die ihre Maschinen vor dem Start überprüfen. Es ist Anfang September, draußen bläst ein frischer Wind und die Sonne erhellt einen grenzenlos weiten blauen Morgenhimmel. Der Spätsommer beschert uns noch eine Hochdruckwetterlage und wir wollen dies in vollen Zügen genießen.

Im Aufenthaltsraum hängen zwei große Landkarten nebeneinander. Anlass, einmal wieder über die geheime, aber doch jedem Flieger bekannte Verbindung zwischen Karten und Fliegerträumen nachzudenken. Die eine Karte, eine Sichtflugkarte, die das Gebiet der Bundesrepublik darstellt, nutzte ich am Abend zuvor, um meinen Flug nachzuvollziehen. Auf der Fläche der Karte nahm mein Flugweg ein bescheiden kleines Dreieck ein. Ich konnte die topografischen Besonderheiten der Landschaft, meine inneren Bilder und die grafische Abbildung in Deckung bringen. Oft mache ich dies nach dem Fliegen, erst dann finde ich den notwendigen Abstand und innere Ruhe. Die zweite Karte ist eine Weltkarte im Maßstab von 1 zu 20 Millionen. Sie zeigt, aus irgendeiner, nicht allzu fernen Zeit, die weltweiten Flugverbindungen der Lufthansa. Versuche ich meinen Flugweg in diese Karte zu projizieren, so verschwindet der Flug und ich gleich mit. Gerade war ich noch davon überzeugt, dass mein Flug ansehnlich und mein Erlebnis intensiv waren. Wie schnell sich doch die eigene Überheblichkeit relativieren kann. Der Raum, der bei einem solchen Flug durchflogen wird, schrumpft zum Ort, wenn der Maßstab der Betrachtung verändert wird. Ein Blick auf die zweite Karte genügt.

Das ist es, was ich so vermisse, was ich oft kritisiere, die Einseitigkeit, die oft mit einer Portion Dogmatismus daherkommt. Es gibt so viele Experten, die ihren Raum, ihre Routen kennen, die schon dutzende Male, je hunderte Male ein Dreieck über Schwarzwald, Alb und anderen Mittelgebirgen geflogen sind. Die Welt aber kennen sie nicht, sondern, im globalen Maßstab, nur ihren eigenen Ort. Umgekehrt aber, was vermisse ich an de Globtetrottern? Sie waren überall auf der Welt, haben alle erdenklichen Sehenswürdigkeiten bereist, aber sie sind nirgendwo heimisch, nichts kennen sie wirklich gut. Es ist immer ein Blindflug in großer Höhe. Sie haben nie gelernt, das Ganze in den Teilen zu suchen, einen Ort als den Ort zu sehen, an dem man lebt, wo man fliegt.

Es sollte möglich sein, beide Perspektiven zu vereinen. Als Kind wollte ich die Welt von oben sehen. Ich stellte mir vor, dass ich mit einem Flugzeug (natürlich mit meinem Flugzeug!“) in Linien über die Erdoberfläche flöge und so Streifen um Streifen des Globus erkunden würde. Ich war eine Satellit, der Umkreisung für Umkreisung immer neue Gebiete scannte oder fotografierte. Diese Annahme ist natürlich naiv. Sinnlos ist sie nicht. Geblieben ist der Wunsch, die Erde als Ganzes zu verstehen.

Ich hatte mich vor einiger Zeit darüber gewundert, dass es Segelflieger gibt, die sich langweilen und zugeben, dass das Fliegen ihnen keinen Reiz mehr bietet. Ich hatte mich auch darüber gewundert, dass sie es dann nicht aufgeben. Dagegen stehen meine letzten vier Flüge, die ich alle vom Hornberg aus startete. Sie waren zwar nicht ideal im Sinne toller Wolken und starker Thermik. Dafür boten sie ungeahnt Reizvolles. Sie sind für mich die Grundlage eines neuen mentalen Modells des Segelfliegens – dem Biologger-Modell.

Der letzte Flug war erst gestern und ist mir daher noch in frischer Erinnerung. Aber auch die anderen Erlebnisse werden so schnell nicht verblassen. Das Besondere an diesem Flug war die Tatsache, dass ich mich das erste Mal tatsächlich wie ein Vogel fühlte. Ich flog, in niedriger Höhe, von Kirchturm zu Kirchturm und kam doch zu meinem Startplatz zurück. Es war, als würde Hesse an einem Spätsommertag in der Luft wandern. Als ich startete, war es bereits abzusehen, dass der Wetterbericht recht haben würde. Die wenigen Wolken würden über kurz oder lang abtrocknen. Mutig flog ich dennoch in relativ bescheidener Höhe ab, denn das eine hatte ich von meinen ehemaligen Mentoren gelernt: Jeder Flug sollte ein Streckenflug sein, bei jedem Wetter. Die Zeit der Platzfliegerei war endgültig vorbei.

Da der Wind aus Nordosten kam, flog ich, so gut es die Wolken zuließen, in diese Richtung. Weit kam ich nicht. Der Gegenwind drückte mich schnell nach unten, so dass ich nach wenigen Minuten schon wieder hoffsehnsuchtsvoll nach der nächsten Wolke schaute, diese, so direkt wie möglich anflog und dann bis an deren Unterseite hochkreiste. Für mich war dies kein Tag der schnellen Vorflüge. Aus einem Flug im Schwarzwald, der mich dann in die ersten Albtäler geführt hatte, wusste ich noch, das mein Flieger bei allzu forschem Vorfliegen gegen den Wind sehr schnell an Höhe verlor. Da war einfach nichts zu machen, das waren die Gesetze der Physik. Also blieb mir nur vorsichtiges Vorfliegen, immer die Sinkrate der Maschine im Blick, die Suche nach den Zentrum des Aufwindes, das Höherkurbeln bis an die Basis und das entschlossene Weiterfliegen.

Mein Masterplan bestand darin, mich ein gutes Stück gegen den Wind vorzukämpfen um mich dann mit Rückenwind zurückschieben zu lassen wie ein Ballon. Das erschien mir unter den gegebenen meteorologischen Verhältnissen die beste Alternative. Immer seltener wurden nun die Wolken und ich kam unendlich langsam voran. Zum Glück war dies kein Wettbewerb, zum Glück wollte ich den Flug „nur“ genießen, zum Glück zählte ich keine Punkte, sondern Blicke. Mir ging es nicht um eine Platzierung in einer Tabelle sondern um das Einsammeln von erinnerungswürdigen Erlebnissen. Und davon bot mir dieser Flug reichlich.

Schon sah ich in der Nähe unter mir das Kloster Nehresheim, das ich vor ein paar Wochen zusammen mit meiner Frau besucht hatte. Aus der Luft sah man erst, wie gewaltig diese Anlage war. Sie war dazu bestimmt, schon aus der Ferne wahrgenommen zu werden und den Menschen aus der Zeit des Klosters Ehrfurcht einzuflößen. Es erinnerte mich an den Roman „Das Memorial“ des portugiesischen Nobelpreisträgers José Saramago, der darin schildert, mit wie viel Entbehrung der Bau einer Kathedrale verbunden ist.

Für die meisten Segelflieger war es hingegen nur ein Wendepunkt, eine GPS-Koordinaten, die sie in die Flugdatenbankbank ihres Rechners eingeben, speichern und bei Bedarf abrufen. Ich aber freute mich über das Wiedersehen aus neuer Perspektive. Zeigte dies doch den Wesenskern des Fliegens, die Möglichkeit, sich einen neuen Blickwinkel auf bereits Bekanntes zu erarbeiten. Dies ist auch gleichzeitig das Wesen der Philosophie. Noch als ich darüber nachdachte, bemerkte ich das rapide Abtrocknen der Wolken, die immer größer werdenden blauen Löcher, die eigentlich keine Löcher waren, sondern Gebiete ohne Wolken, die aber aus unerfindlichen Gründen von allen Piloten Löcher genannt wurden. Seltsam, die Sprache der Segelflieger. Obwohl sie sich in einem dreidimensionalen Raum bewegten, mussten sie auf die zweidimensionale Projektion zurückgreifen, um dieses Himmelsphänomen zu beschreiben. Denn wie nennt man einen Raum im Raum, in dem keine Wolken sind, in dem keine Thermik herrscht? Auf die Karte projiziert ist es in der Tat ein „Loch“. Vielleicht nennt man es auch Loch, weil man mit dem Wort assoziiert, das man irgendwo hinein- oder hinunterfällt. Und dies blüht einem Segelflieger in der Tat, wenn keine Thermik mehr vorhanden ist, nur das er nicht fällt, sondern langsam zu Boden gleitet und dann auf einer Wiese oder einem Feld landet. Also dramatisiert der Begriff „Loch“ das, was vorhanden ist und das, was darin passiert, ein wenig. Am Nördlinger Ries, eines der bekannteren Löcher, mogle ich mich in immer niedrigeren Höhen vorbei nach Norden. An die Realisierung der großen Strecken, die ich beim Start so euphorisch geplant hatte, ist nun nicht mehr zu denken. Mir geht es um’s Obenbleiben und weiterkommen. Und vor allem geht es mir darum, heimkommen.

Da sind die Segelflieger dann auch ein sehr konservatives Völkchen. Der Flugplatz ist ihr Heim, man sehnt sich danach und alle anderen Orte sind damit nicht vergleichbar. Inzwischen ist es endgültig blau, am Himmel keine einzige Wolke mehr und ich muss meine Flugtaktik umstellen. Es ist schon lange her, dass ich das letzte Mal bei Blauthermik geflogen bin, seither hatte ich es immer vermieden. Zu heiß ist es meist im Cockpit, zu anstrengend dann der Flug. Nun ließ es sich nicht vermeiden und ich hatte auch noch ein wenig Zeit, die klare Luft zu genießen, die eine schöne Fernsicht zuließ. Mein Gesicht wurde von der Septembersonne angenehm gewärmt, was einschläfernd auf mich wirkte. Ein Gefühl, gegen das ich mit aller Kraft ankämpfte, denn nun galt es, erst Recht wach zu sein. Das war kein Spaßflug, kein Flug, bei dem es keine Mühe machte, unter hohen Cumuluswolken oben zu bleiben oder gar unter Wolkenstraßen hinweg zu jagen. Ich erinnerte mich an mein Lehrbuchwissen über Blauthermik und meine eigenen Erfahrungen. Gibt es keine Wolken, an denen man sich orientieren kann, so muss man sich als Segelflieger nach Bodenmerkmalen orientieren. Die Frage ist dann, wo sich Warmluftblasen bilden und wo sich diese ablösen. Lange hat man nicht Zeit, diese zu finden. Immer niedriger flog ich, schon sahen die Häuser, die Autos auf der Straße deutlich nah aus. Ich stellte mir vor, ein Hase zu sein. Wer hatte mir das beigebracht? Mein Fluglehrer? Ein Lehrbuch? Wo würde ich mich als Hase wohl fühlen, wo wäre es mir angenehm warm? Dort sollte sich warme Luft bilden. Wo würde diese Luft bei dem gegebenen Wind hintreiben und wo würde sie sich, an einer Waldkante oder an einem Hang, vom Boden loslösen und in die Höhe treiben? Dort musste ich hin und zwar schnell. Und in der Tat ging meine Rechnung auf. Dort, über einem Dorf, das durch eine Hangkante nach Süden hin begrenzt war, spürte ich einen leichten Aufwind. Der nördliche Wind hatte die Luft durch die Sonneneinstrahlung über den Häusern erwärmt, sie trieb zur bewaldeten Hangkante und erhob sich dann. Ich surfte an der Waldkante hin und her, kam immer tiefer. Schon war ich nur noch 200 Meter über dem Boden, die Häuser und die Kirche waren klar unter mir erkennbar, wie ein Anker im klaren Wasser. Ich blickte mich nach einem Feld um, das zur Landung geeignet war, es sollte eben sein, große genug, frei von Hindernissen wie Stromleitungen und möglichst in nord-südlicher Richtung verlaufen. Es gab keines, das allen diesen Kriterien entsprach, aber das ist eben die Abweichung der Praxis von der Theorie. Immerhin sah ich ein Feld, das mir geeignet erschien. Ich notierte es im Geiste als meinen Außenlandeplatz ohne mich gleich darin zu verlieben. Ich wollte noch versuchen, oben zu bleiben. Ich sagte mir, dass es auf jeden Fall Thermik geben musste, dass es alles eine Frage der Konzentration und der Geduld sei. Mein Hin- und Herfliegen brachte mir keinen Höhengewinn aber immerhin auch keinen Verlust ein. Nun hatte ich eine Idee. Wenn es mir gelänge, mich ständig ohne Höhenverlust in dieser Luftmasse zu halten, dann würde mich der Wind, der ja aus Norden kam, immer weiter gegen Süden versetzen, mich also meinem Ziel entgegen treiben. Ich glaubte nicht ernsthaft daran, auf dem Hornberg landen zu können, der ja noch 30 Kilometer entfernt war und zudem auf einem Hochplateau, 200 Meter über der Ebene, lag. Aber ich wollte meinen Außenlandepunkt so weit als möglich nach Süden hin versetzen, um die Rückholtour mit dem Anhänger so angenehm wie möglich zu gestalten.

In immer neuen Kreisen versuchte ich das minimale Steigen, das ich vorfand, zu optimieren. Nach 20 Minuten hatte ich einen Höhengewinn von nur 100 Meter vorzuweisen, worauf ich aber recht stolz war. Diese hundert Meter veränderten meine Perspektive und insgesamt meine Aussichten. Sie machten meinen Plan möglich. Ich ließ mich über den Hügel treiben, der das eine Dorf vom nächsten trennte, hatte genug Höhe um mit Rückenwind einen dazwischen liegenden Wald zu überfliegen und begann mein Spiel von vorne. Warme Luft über dem Dorf, umkreisen des Kirchturms, geduldiges Suche nach einer Aufwindquelle, das Versetzen mit dem Wind. Es gelang mir nicht, einen stabilen Aufwind zu finden. Bald ging es nach oben, nur um dann wieder rasch zu fallen. Das alles in einem Kreis. Also kreiste ich steiler, versuchte das Zentrum zu fassen und darin zu bleiben. Ich verbesserte mein Steigen ein wenig, konnte mich insgesamt in dem schmalen Höhenband halten und bemerkte bald, wie die Kirche, die mein Fixpunkt war, ein wenig kleiner wurde. So ging es weiter. Der Wind trieb mich, ich hielt meine Höhe in vielleicht 300 Metern über Grund. Das war nicht viel, aber es gab auch keinen Grund zum Verzweifeln.

So einen Flug hatte ich noch nie gemacht! Ich überflog die wunderschöne Landschaft in Platzrundenhöhe. Immer nahm ich mir ein neues Außenlandfeld in Richtung Süden in den Blick, dann huschte ich über den nächsten Hang, den nächsten Wald zum nächsten Dorf. Ich wanderte in der Luft von Kirchturm zu Kirchturm. Ich ließ mich treiben. Auch wenn es aufgrund der notwendigen Konzentration zu anstrengend war, um genüsslich zu sein, stellte sich ein innerliches Hochgefühl ein, ich merkte wohl, das hier etwas Besonderes im Gange war, dass ich es war, der das Besondere produzierte, dass meine Taktik aufging. Schon sah ich den Hornberg und die drei markanten Gipfel in seiner Umgebung recht nahe Aufblinken, Nun wusste ich, dass ich zumindest recht nahe herankommen könnte. Vielleicht würde ich doch noch einen kräftigen Aufwind finden, der mit einen Direktanflug ermöglichte? Irgendwo musste einer sein, doch wo? Das Dorf, über dem ich die letzten Minuten gekreist war, blieb nach Norden zurück, die Kirche, die vorhin noch so bedrohlich nahe war, in einer Perspektive, aus der man als Segelflieger keine Kirche je sehen möchte, war nun klein, sie verschwand ebenfalls aus meinem Blickfeld. Mit der Geschwindigkeit eines Fahrrades trieb mich der Wind meinem Wunschziel entgegen. Jetzt schien es plötzlich machbar. Dieser Aufwind war ein wenig stärker, ich konnte ihn mit meinen steilen Kreisen fassen, ich konnte das Steigen verbessern.

Jetzt unternahm ich einen letzten Anlauf. Zwar hatte ich die notwendige Höhe für einen Direktanflug noch nicht erreicht, mir fehlten mindestens 300 Meter, doch ich flog direkt Richtung Hornberg. Meine Fluggeschwindigkeit addierte sich zur Windgeschwindigkeit, ich wollte nah an mein Ziel kommen. Unterhalb vom Hornberg liegt in der Ebene, 200 Meter tiefer, der Flugplatz Heubach vor dem gleichnamigen Ort. Bis dorthin war mein Flug nun gesichert. Es wäre keine Schande, dort zu landen. Ich flog so, dass ich mir diese Option offen hielt, Heubach zu meiner linken, den Hornberg rechts vor mir. Aber nun ging es nur noch nach unten, also steuerte ich links, sah schon nach der Landerichtung in Heubach. Über dem Ort dann, vor der Hangkante, fand ich dann aber noch in letzter Minute einen Aufwind, diesmal einen verlässlichen, es war ironischerweise der Beste des Tages. Das Variometer piepste vergnügt, die Kreise zog ich rund, das Steigen war konstant, meine Rückkehr zum Hornberg war von diesem Moment an gesichert. Als ich eine sichere Höhe erreicht hatte, griff ich nach meinem Mobiltelefon und rief meine Frau an, um ihr mitzuteilen, dass ich es nach Hause schaffen und gleich landen würde.