Es war gestern wohl das erste Mal, dass ich an einem Tag mit herrlicher Thermik nicht flog und mich dennoch entspannt fühlte! Meine Frau war deswegen völlig irritiert - immer wieder wies sie mich auf die tollen Wolken („Nutella-Wolken“) hin. Auch ich selbst verstand die Welt nicht mehr. Wie kam das nur?
Mein kleiner Apis 2 steht noch immer am Boden. Technische Probleme ziehen sich seit Wochen hin. Die neue Software für die Motorsteuerung lässt sich nicht überspielen, obwohl ich inzwischen einen Uralt-Laptop aus dem Computermuseum (mit entsprechendem Adapter) beschafft habe. Mit immer neuen Versionen der Software bin ich immer wieder neu gescheitert. Immerhin kann ich den Flieger jetzt schon blitzschnell aus dem Hänger ziehen und wieder einräumen.
Auch vorgestern scheiterte ich beim letzten Versuch. Also war klar, dass ich heute nicht würde fliegen können. Zunächst war mir das herzlich egal, das Wetter sollte durchwachsen sein. Es kam aber anders: Würde ich in die OLC-Datenbank - der Kampfarena testesterongesteuerter Schneller-Höher-Weiter-Flieger sehen (was ich aber nicht tue) - dann würden dort wahrscheinlich große Flüge auf der Ego-Bühne präsentiert. Der Himmel sah ab Mittag wirklich nicht schlecht aus. Aber was nicht ist, ist nicht. Also überlegte ich: Wandern im Schwarzwald (wie meistens) oder Wandern am Bodensee? Ich hatte mir am Tag zuvor noch neue Wanderschuhe gekauft, die wollte ich endlich einlaufen.
Ich kramte alle alten Wanderkarten hervor und fand sogar noch eine Freizeitkarte für den Bodensee mit trügerischem Maßstab. Nördlich von Meersburg entdeckte ich einen kleinen Ort mit Wanderparkplatz, von dort führte ein Weg zum Schloss Salem. Das konnte ich mir gut vorstellen! Ein wenig wandern und dann im Schlossgarten Kaffee und Kuchen. Meine Frau war einverstanden, wir fuhren los. Das Flugwetter wurde immer besser, die Wolken standen genau in die Richtung, in die wir fuhren und wir bald im Stau, denn es wollten noch mehr Menschen zum Bodensee.
Irgendwann kamen wir an. Meine Frau war verstimmt, ohne sagen zu können warum, ich relativ heiter, obwohl ich immer wieder mal Segelflieger am Himmel sah. Verdrehte Welt. Ich konnte es ihnen einfach gönnen, weil ich darauf vertraute, dass meine Zeit auch noch kommen würde. Vielleicht war es das, ein Zugewinn ein Vertrauen, an Zuversicht, an meine eigene Zeit. Jedem seine Zeit, mir meine. Ich wunderte mich über mich selbst. Wäre das früher, also noch letztes Jahr, passiert, hätte ich ständig die Ungerechtigkeit dieser Welt thematisiert, wäre aggressiv geworden und „diese nutzlosen Idioten“ verflucht, die fliegen durften, während ich zusehen musste. Heute aber spürte ich eine bislang noch nicht gekannte Ruhe in mir.
Vielleicht lag es daran, dass ich noch vor ein paar Tagen beim Arzt saß und einmal wieder merkte, wie fragil doch unser Körper und damit unser Leben ist. Wir leben auf dünnem Eis. Vielleicht lag es daran, dass ich immer noch vom fliegerischen Konzept des Apis 2 überzeugt war und ich daraus eine derart mittelfristige Perspektive ableiten konnte, so dass mich der eine Tag, an dem ich nun nicht flog, auch nicht (mehr als notwendig) ärgerte. Es mag viele Gründe dafür geben. Fest steht, ich war relativ gelassen, so wie ich es mir eigentlich wünschte. Das erste Mal seit langem.
Wir parkten, packten unsere Rücksäcke und liefen los. Kein Wort der Klage kam über meine Lippen. Ich sah mir die Wolken an, ohne wie sonst wehleidig zu jammern. Meine Frau schaute mich immer wieder misstrauisch von der Seite an, aber meine Entspannung war echt. Ich war froh, den Kreislauf der Routine durchbrochen zu haben. Froh, durch diese liebliche Landschaft, das Hinterland des Bodensees zu laufen. Froh, die Wärme zu spüren. Die Schritte taten gut, mein Körper brauchte Bewegung. Die Landschaft tat gut, meine Augen brauchten Abwechslung. Und natürlich war der Himmel, die Wolken in klarer Luft, einfach wunderschön. Dazu das Alpenpanorama in der Ferne - einfach ein Geschenk. Wäre ich nicht zufällig ein leidenschaftlicher Segelflieger, dann sähe ich darin einen perfekten Sommerhimmel an einem perfekten Sommertag. Aber genau das konnte ich trotzdem erkennen. Ich konnte mich strecken unter diesem Himmel, mich wärmen in dieser Sommersonne. Ich konnte es genießen, hier und jetzt, so privilegiert mit meiner geliebten Frau durch die Landschaft zu laufen. Und ich sah zum ersten Mal in meinem Leben Störche aus der Nähe.
Ich wies meine Frau auf die Störche hin. Sie kreisten mit gigantisch wirkender Spannweite über dem Tal. Ein Paar. Die wahren Meister in Aktion zu erleben, löste ein erhebendes Gefühl in mir aus. Sie kreisten elegant, einer schlug jedoch ab und zu mit dem Flügel, was mich zu neckischen Bemerkungen über Hilfsmotoren in Segelflugzeugen veranlasste. Dann flogen Sie ein Stück Richtung Nordwesten, weg von uns. Ich schaute ihnen sehnsüchtig nach. Tausend schöne Gedanken gingen mir durch den Kopf: So muss es gewesen sein, als Otto Lilienthal „seine“ Störche beobachtete. So musste alles begonnen haben, so musste der zentrale Gedanke geboren worden sein.
Dieser Gedanke berührte mich mehr, als es ein realer Flug, heute an diesem Tag, einer von vielen austauschbaren und damit verwechselbaren, je getan hätte. Ich überlegte, wie ich diese Szene für mein Buch über Gustav Messmer verwenden könnte (an dem ich seit einiger Zeit schreibe). Ich prüfte, wie ich die ganze Landschaft für eine Szene dieses Buchnes verwenden konnte. Ich sah alles so an, als würde ich es unmittelbar beschreiben müssen. Ich sah die Welt als Schriftsteller und damit war ich, für den Moment zumindest einer. Und genau dies war Freiheit: die Berührung mit dem Wesentlichen, die unzähligen Einzelbeobachtungen, die Stimmigkeit, die bloße Freude an der eigenen Existenz, das Wundern über die Zeitläufe und die Natur, die Gedanken, die wie Grassamen an mir vorbeitrieben. Alles das versöhnte mich mit diesem Tag. Gab mir Ruhe und Gelassenheit. Nicht wer fliegt steht über den Dingen (das ist ein Klischee), sondern wer die Freiheit hat, mit sich selbst überein zu stimmen – und sei es nur für einen Moment der Existenz. Diese Resonanz mit der Welt zu spüren geht weit über das unglaublich eindimensionale Punktesammeln des OLC hinaus.
Die Störche kehrten zurück. Mit unglaublicher Eleganz und großer Sinkgeschwindigkeit bauten sie ihre Höhe in Halbkreisen ab, wobei sie immer wieder die Kurvenrichtung wechselten. Sie gebrauchten ihren Flugkörper und ihre Flügel mit einer Akribie, die man diesen großen Vögeln auf den ersten Blick gar nicht zutrauen würde. Es sah so aus, als würden sie vom Himmel kommend punktgenau in ihr Nest stürzen und diesen Sturz bestenfalls ein wenig lässig abbremsen. Das Nest sahen wir später auf dem Rückweg. Die Menschen hatten den Störchen ein Nest auf einem Stahlpfeiler gebaut. Der kleine See in der Nähe trug den Namen „Storchenweiher“. Wie es scheint, hat die Symbiose zwischen Menschen und Störchen hier schon eine längere Tradition.
Während wir all dies beobachten konnten, während wir durch die Felder gingen und uns die Sonne wärmte, ärgerte ich mich kein bisschen darüber, dass ich selbst nicht fliegen konnte. Nicht, weil ich keine Lust dazu hätte. Meine Sehnsucht, endlich wieder zu fliegen, war unendlich groß. Aber noch größer war die Freude, hier und heute einen echten Sommertag zu erleben. Das Erlebnis dieses Sommertages gab mir alles an Freude zurück, was ich in letzter Zeit verloren hatte.
Ich breitete die Arme aus, um die Wärme dieses Tages zu spüren. Ich sog den Lufthauch, der von der warmen Teerstraße aufstieg, in meine Nase und erinnerte mich an Kinderspiele auf dem Gehsteig vor dem Haus. Ich roch die Erde, die Felder, die Bäche, die dazwischen flossen. Aus diesen Gerüchen und aus der Wärme, die meinem Körper so gut tat, entstand das Bild eines einzigartigen Sommertages für den es nicht viel mehr gebraucht hatte, als eine Entscheidung am Frühstückstisch.
Wie sahen meine Sommer sonst aus? Wenn ich flog, dann konnte ich die Wärme und die Gerüche der Sommertage nicht spüren. Ich überflog das alles. Wenn ich am Abend landete, dann konnte ich nur noch das Ausglimmen des Tages erahnen. Von schmerzlicher Melancholie begleitet, merkte ich Ende August immer nur, dass der Sommer, auf den ich mich eigentlich so sehr gefreut hatte, vorbei war. Dann gab es keine Thermik mehr, dann konnte ich innerlich entspannen. So absurd wie das war, so real bestimmte es mein Leben.
Aber wie armselig (ein sehr schönes deutsches Wort, übrigens) war dies alles im Vergleich zu einem bodenständigen Sommertag, der auch als solcher erlebt wurde? Es war der erste Tag in meinem Leben, der gerade deshalb schön war, weil ich nicht geflogen bin und weil ich mich bewusst und mit echter Freude auf das, was da war, eingelassen habe. Natürlich freute ich mich schon auf den nächsten Flug. Aber ich hoffte auch, dass es noch den einen oder anderen Sommertag wie diesen geben wird, mit Blasen an den neu eingelaufenen Schuhen, Eis am See und eleganten Störchen, in denen das Sinnbild für die Sehnsucht nach dem Schönen erkannt werden konnte.