14. September 2011

Momento Mori


Ein persönlicher Rekord war es allemal. Noch nie bin ich Mitte September wunderbare drei Stunden bei bester Thermik mit einem Segelflieger in der Luft gewesen. Wie das kam?
Nach dem Aufstehen blicke ich routinemäßig aus dem Wohnzimmerfenster. Am Frühstückstisch scherze ich mit meiner Frau, weil es draußen trübe, neblig und regnerisch ist. Bei diesem Wetter kann ich entspannen, sage ich. Weil du nicht ans Fliegen denken musst, antwortet sie. Soweit, so gut. Den ganzen Vormittag über sitze ich am Schreibtisch und versuche, etwas Vernünftiges zu schreiben. Draußen wird das Wetter besser, aber das merke ich zunächst gar nicht, so sehr bin ich in meine eigenen Texte vertieft. Langsam aber sicher verzweifle ich daran: Es sind zu viele unverbundene Baustellen, das große Ganze wird nicht sichtbar. Ich schiele immer wieder auf die Uhr, mein Magen arbeitet besser als mein Kopf, so ist das nun mal an solchen Tagen.
Wir essen draußen auf dem Balkon. Von dort hat man eine wunderschöne Sicht Richtung Süden über den Hochschwarzwald. Und wenn man sich ein wenig über das Geländer beugt, dann kann man auch Richtung Osten schauen, Richtung Alb, die Sehnsuchtsrichtung. Während ich esse und mir über die Zubereitung des Fleisches und die Gewürze Gedanken mache, registriert etwas in mir, sagen wir, die Gehirnregion, die für Segelfliegen zuständig ist und bei mir besonders ausgeprägt ist, eine Veränderung.
Das ist umso verwunderlicher, als ich offiziell dieser Gehirnregion Urlaub bis zum nächsten Frühjahr gegeben habe. Aber warum sollte ich eine Ausnahme sein, die neuere Hirnforschung hat es gezeigt: das Ich ist eine Illusion. Die entsprechende Gehirnregion kümmert sich nicht darum und meldet mir plötzlich, beim Kauen: Tolles Segelflugwetter! Ja und jetzt? Ich esse doch! Das ist ja komisch, heute morgen Regen und Nebel und jetzt könnte man glatt Segelfliegen gehen, rede ich mehr so für ich dahin, doch natürlich sage ich das auch zu meiner Frau. Du gehst heute fliegen, kürzt sie kommentierend jede nur mögliche Diskussion ab. Doch so einfach ist es ja nicht. Eigentlich muss ich ins Büro, eigentlich habe ich einen Termin mit meiner Assistentin, eigentlich muss ich dies und das tun. Also lege ich mich erst einmal für 10 Minuten auf's Ohr, soll doch das Kissen entscheiden. Wenn ich einschlafe: Pech gehabt, Chance verpasst, ab ins Büro, Ärgern inklusive. Doch ich kann nicht schlafen, obwohl ich hundemüde bin. Ich stehe auf und teile meiner Frau den Entschluss mit, den sie ja schon vorher getroffen hat. Es geht doch nichts über eine gute Arbeitsteilung in der Ehe.
Jetzt beginnt eine andere Zeitrechnung. Und zwar von einem Moment auf den anderen. Diese Zeit hat nur die Zyklen der Wolken im Blick, keine Sitzungstermine oder leere Tonerkartuschen. Ich nehme meinen Grips zusammen und packe ein, was man eben für einen solchen spontanen Flugtag benötigt: Akkus, Geld, Sonnenbrille, Wasserflasche und nicht zu vergessen, die wunderbare Ein-Mann-Aufbauhilfe. Der Hänger steht vor der Tür, in weniger als 15 Minuten bin ich auf der Piste Richtung Flugplatz und schaue ständig den Himmel an, vorbildlich ist das nicht, aber ich kann einfach nicht anders.
Inzwischen klappt das Aufrüsten allein noch wunderbarer, in weniger als einer Stunde stehe ich am Start. Ein Problem muss ich noch lösen. Auf der Fahrt zum Flugplatz hatte ich 10 Liter in einen speziellen Kanister getankt, um Zeit zu sparen. Ich wusste, dass nur noch wenig Sprit im Tank des Apis 2 ist. An der Tankstelle denke ich noch: Bitte nicht vergessen, dass Öl (1:100) in den Kanister zu kippen und dann ganz toll mischen. Und genau das passiert dann in der Eile natürlich! Ich beginne zu tanken, der Sprit läuft in den Trichter. Ich schaue auf die Flüssigkeit und plötzlich macht es Klick in meinem Hirn: die Farbe ist ganz anders. Es fehlt der violette Ton, der durch das Öl kommt. Ich habe das Öl vergessen. Zum Glück hatte ich kaum etwas getankt, vielleicht einen Liter. Ich fahre zum Hänger und hole das Öl. Nochmal gut gegangen.
Mühelos schiebe ich den Flieger alleine auf die Startbahn, Richtung 36. Dort sieht es noch blau aus, die Wolken stehen im Süden. Ich gebe Gas, starte und fliege die normale Platzrunde ab. Schnell steige ich über Platzrundenhöhe, beim Schwenk nach Süden nehme ich eine Wolke ins Visier, meine Eintrittskarte für den Himmel. Der Motor schaltet aus und fährt ohne Probleme ein - wie schnell man sich doch an dieses Wunder der Autonomie gewöhnen kann. Aber ich freue mich doch immer wieder.
Ich bin erstaunt, wie gut die Thermik ist. Mehr noch, sie ist eigentlich fantastisch. Und dann ist alles anders als sonst: Ohne Mühe finde ich heute die Thermik, jede Bewegung der Luft ist spürbar wie eine zärtliche Hand auf der Schulter, mal rechts, mal links. Ruhig und stetig geht es nach oben, keine Turbulenzen ärgern mich, das Vario steht ruhig auf einem Wert, ein Meter, zwei Meter pro Sekunde. Nicht berauschend, aber das hatte ich nicht erwartet.
Überhaupt habe ich heute gar nichts erwartet, vielleicht ist dies das ganz große Geheimnis. Wer morgens aufsteht und sich über schlechtes Wetter freut, weil der dann den ganzen Tag am Schreibtisch sitzen kann, der kann nachmittags schon mal völlig aus dem Häuschen sein, wenn er plötzlich tolle Thermik und eine super Basis antrifft. Und das völlig ohne Mühe.
Ich bin total entspannt. Noch beim Frühstück habe ich verkündet, dass genau das im Moment unmöglich sei. Zum ersten Mal in diesem Jahr lehne ich mich entspannt zurück und lasse mich in den bequemen Sitz des Apis 2 fallen. Zum ersten Mal lockern sich meine Füße, die sonst streng in den Rudern stehen. Zum ersten Mal greife ich den Knüppel dauerhaft locker mit nur zwei Fingern. Denn es geht ja so mühelos. So ungestört (keine bekloppten OLC oder Wettbewerbsflieger, die mich über den Haufen fliegen). So harmonisch, als wenn der Apis 2 und ich uns erst jetzt richtig verstehen würden und wir bislang nur über einen Übersetzer kommunizieren konnten, der alle meine Wünsche zwar im Prinzip richtig, aber dann doch eben ein bisschen falsch interpretierte. Wir verstehen uns und ich fühle mich wohl. Ich könnte die Augen schließen, wenn das nicht unpassend beim Fliegen wäre und wenn mich das Licht nicht so sehr in den Bann ziehen würde.
Die Luft ist heute rein und klar. Nur in einem sehr begrenzten Gebiet gibt es tolle Wolken, ich bin heute mitten in diesem Gebiet. Dahinter ist fliegerisches Niemandsland. Im Niemandsland ist der Himmel blau, hier bei mir bilden sich immer bessere Wolken, so dass ich meinen Augen fast nicht traue. Wäre es nicht schon relativ spät (ich bin erst um 3 Uhr nachmittags gestartet), so lockten mich diese Wolken weiter in die Ferne. So aber bleibe ich vernünftig mitten in der Unvernunft, die ein Segelflugtag mitten in der Woche darstellt. Aber sie locken mich, sie rufen mich. Und ich rufe zurück: jetzt nicht, aber wartet, im Frühjahr wird mich nichts halten.
Langsam bilden sich einige Wolkenstraßen. Eine reicht vom Bodensee zum Schwarzwald. Nachdem ich anfangs am Ostrand des Schwarzwaldes gespielt habe, tuckere ich nun unter der Wolkenstraße entlang, zuerst in Richtung Schwarzwald, dann in Richtung Bodensee und umgekehrt. Mein Flarm piepst: Da ist tatsächlich noch ein anderer Segelflieger. Man muss auch gönnen können, solange es keine Horden sind. Irgendwann kreise ich zusammen mit einem Ventus, natürlich auch mit Motor, er fliegt davon, ich bleibe bei den Vögeln.
Die Vögel. Es sind so viele. Überall treffe ich auf Greifvögel, dicht unter der Wolke in knapp 2.000 Meter Höhe. Sie fliegen in Paaren, in Gruppen und wie immer zeigen sie mir ihr Gefieder und ihre Krallen - der Apis 2 muss ihnen irgendwie Angst machen. Das hatte ich ja schon bei anderen Flügen beobachtet. Aber es macht Freude so nah mit ihnen zu sein, auch wenn ich immer auf der Hut bin.
Die Wolken laufen breit, der ganze Himmel scheint nun, es ist 17:30, bedeckt zu sein. Aber natürlich steige ich immer noch unter diesem Wolkenbrei. Ich fliege nach Südosten, Richtung Singen, die Wolke saugt mich fast ein, ich husche durch Wolkenfetzen, bin kurz ohne Sicht, Schwaden rechts, Licht rechts, dort, wo es hell ist, ist Westen, so kann ich die Orientierung nicht verlieren. Und dann rausche ich ins wolkenlose Nichts, hier beginnt das Niemandsland, ich wollte nur mal einen kurzen Blick hinein werfen.
Am Rande des Niemandslandes gibt es noch Wolken, aber diese sind tiefer. So gelingt mir etwas sehr, sehr seltenes. Mit einem Segelflugzeug fliege ich über den Wolken. Es sind die Wolken, die schon zu einer anderen Luftmasse gehören. Viel Zeit (bzw. Höhe) habe ich nicht, um das Niemandsland zu erkunden. Noch ein Blick auf die Quellungen, die aus den Alpen hochschießen, dann mache ich eine Umkehrkurve und fliege langsam zurück zum Flugplatz.
Die Wolkenstraßen lösen sich langsam auf, so langsam, dass ich es zunächst nicht wahrhaben möchte. Aber unweigerlich ruft mich das Unten. Will ich nicht außenlanden, muss ich zurück fliegen. Ich kreise und baue die zwischenzeitlich gewonnene Höhe ab. Gerne würde ich noch bleiben, aber die wenigen Fetzen, die am Himmel übrig geblieben sind, sprechen eine eindeutige Sprache. Dafür fällt das Sonnenlicht wunderschön durch diese Fetzen und Lücken. Wie seidiges Haar, dass glänzt oder wie ein Wasserfall, der aus unendlicher Höhe herabrauscht. Es ist so schön und es macht mich gleichzeitig so traurig. Der ganze Himmel ist ein einziges 'momento mori'. Der Verfall der Wolken mag physikalische Ursachen haben, was ich fühle, ist die Angst vor der eigenen Vergänglichkeit.