Ein persönlicher Rekord war es
allemal. Noch nie bin ich Mitte September wunderbare drei Stunden bei bester
Thermik mit einem Segelflieger in der Luft gewesen. Wie das kam?
Nach dem Aufstehen blicke ich
routinemäßig aus dem Wohnzimmerfenster. Am Frühstückstisch scherze ich mit
meiner Frau, weil es draußen trübe, neblig und regnerisch ist. Bei diesem
Wetter kann ich entspannen, sage ich. Weil du nicht ans Fliegen denken musst,
antwortet sie. Soweit, so gut. Den ganzen Vormittag über sitze ich am
Schreibtisch und versuche, etwas Vernünftiges zu schreiben. Draußen wird das
Wetter besser, aber das merke ich zunächst gar nicht, so sehr bin ich in meine
eigenen Texte vertieft. Langsam aber sicher verzweifle ich daran: Es sind zu
viele unverbundene Baustellen, das große Ganze wird nicht sichtbar. Ich schiele
immer wieder auf die Uhr, mein Magen arbeitet besser als mein Kopf, so ist das
nun mal an solchen Tagen.
Wir essen draußen auf dem Balkon.
Von dort hat man eine wunderschöne Sicht Richtung Süden über den
Hochschwarzwald. Und wenn man sich ein wenig über das Geländer beugt, dann kann
man auch Richtung Osten schauen, Richtung Alb, die Sehnsuchtsrichtung. Während
ich esse und mir über die Zubereitung des Fleisches und die Gewürze Gedanken
mache, registriert etwas in mir, sagen wir, die Gehirnregion, die für
Segelfliegen zuständig ist und bei mir besonders ausgeprägt ist, eine
Veränderung.
Das ist umso verwunderlicher, als
ich offiziell dieser Gehirnregion Urlaub bis zum nächsten Frühjahr gegeben
habe. Aber warum sollte ich eine Ausnahme sein, die neuere Hirnforschung hat es
gezeigt: das Ich ist eine Illusion. Die entsprechende Gehirnregion kümmert sich
nicht darum und meldet mir plötzlich, beim Kauen: Tolles Segelflugwetter! Ja
und jetzt? Ich esse doch! Das ist ja komisch, heute morgen Regen und Nebel und
jetzt könnte man glatt Segelfliegen gehen, rede ich mehr so für ich dahin, doch
natürlich sage ich das auch zu meiner Frau. Du gehst heute fliegen, kürzt sie
kommentierend jede nur mögliche Diskussion ab. Doch so einfach ist es ja nicht.
Eigentlich muss ich ins Büro, eigentlich habe ich einen Termin mit meiner
Assistentin, eigentlich muss ich dies und das tun. Also lege ich mich erst
einmal für 10 Minuten auf's Ohr, soll doch das Kissen entscheiden. Wenn ich
einschlafe: Pech gehabt, Chance verpasst, ab ins Büro, Ärgern inklusive. Doch
ich kann nicht schlafen, obwohl ich hundemüde bin. Ich stehe auf und teile
meiner Frau den Entschluss mit, den sie ja schon vorher getroffen hat. Es geht
doch nichts über eine gute Arbeitsteilung in der Ehe.
Jetzt beginnt eine andere
Zeitrechnung. Und zwar von einem Moment auf den anderen. Diese Zeit hat nur die
Zyklen der Wolken im Blick, keine Sitzungstermine oder leere Tonerkartuschen.
Ich nehme meinen Grips zusammen und packe ein, was man eben für einen solchen
spontanen Flugtag benötigt: Akkus, Geld, Sonnenbrille, Wasserflasche und nicht
zu vergessen, die wunderbare Ein-Mann-Aufbauhilfe. Der Hänger steht vor der
Tür, in weniger als 15 Minuten bin ich auf der Piste Richtung Flugplatz und
schaue ständig den Himmel an, vorbildlich ist das nicht, aber ich kann einfach
nicht anders.
Inzwischen klappt das Aufrüsten
allein noch wunderbarer, in weniger als einer Stunde stehe ich am Start. Ein
Problem muss ich noch lösen. Auf der Fahrt zum Flugplatz hatte ich 10 Liter in
einen speziellen Kanister getankt, um Zeit zu sparen. Ich wusste, dass nur noch
wenig Sprit im Tank des Apis 2 ist. An der Tankstelle denke ich noch: Bitte
nicht vergessen, dass Öl (1:100) in den Kanister zu kippen und dann ganz toll
mischen. Und genau das passiert dann in der Eile natürlich! Ich beginne zu
tanken, der Sprit läuft in den Trichter. Ich schaue auf die Flüssigkeit und
plötzlich macht es Klick in meinem Hirn: die Farbe ist ganz anders. Es fehlt
der violette Ton, der durch das Öl kommt. Ich habe das Öl vergessen. Zum Glück
hatte ich kaum etwas getankt, vielleicht einen Liter. Ich fahre zum Hänger und
hole das Öl. Nochmal gut gegangen.
Mühelos schiebe ich den Flieger
alleine auf die Startbahn, Richtung 36. Dort sieht es noch blau aus, die Wolken
stehen im Süden. Ich gebe Gas, starte und fliege die normale Platzrunde ab.
Schnell steige ich über Platzrundenhöhe, beim Schwenk nach Süden nehme ich eine
Wolke ins Visier, meine Eintrittskarte für den Himmel. Der Motor schaltet aus
und fährt ohne Probleme ein - wie schnell man sich doch an dieses Wunder der
Autonomie gewöhnen kann. Aber ich freue mich doch immer wieder.
Ich bin erstaunt, wie gut die
Thermik ist. Mehr noch, sie ist eigentlich fantastisch. Und dann ist alles
anders als sonst: Ohne Mühe finde ich heute die Thermik, jede Bewegung der Luft
ist spürbar wie eine zärtliche Hand auf der Schulter, mal rechts, mal links.
Ruhig und stetig geht es nach oben, keine Turbulenzen ärgern mich, das Vario
steht ruhig auf einem Wert, ein Meter, zwei Meter pro Sekunde. Nicht
berauschend, aber das hatte ich nicht erwartet.
Überhaupt habe ich heute gar nichts
erwartet, vielleicht ist dies das ganz große Geheimnis. Wer morgens aufsteht
und sich über schlechtes Wetter freut, weil der dann den ganzen Tag am
Schreibtisch sitzen kann, der kann nachmittags schon mal völlig aus dem
Häuschen sein, wenn er plötzlich tolle Thermik und eine super Basis antrifft.
Und das völlig ohne Mühe.
Ich bin total entspannt. Noch beim
Frühstück habe ich verkündet, dass genau das im Moment unmöglich sei. Zum
ersten Mal in diesem Jahr lehne ich mich entspannt zurück und lasse mich in den
bequemen Sitz des Apis 2 fallen. Zum ersten Mal lockern sich meine Füße, die
sonst streng in den Rudern stehen. Zum ersten Mal greife ich den Knüppel
dauerhaft locker mit nur zwei Fingern. Denn es geht ja so mühelos. So ungestört
(keine bekloppten OLC oder Wettbewerbsflieger, die mich über den Haufen
fliegen). So harmonisch, als wenn der Apis 2 und ich uns erst jetzt richtig
verstehen würden und wir bislang nur über einen Übersetzer kommunizieren
konnten, der alle meine Wünsche zwar im Prinzip richtig, aber dann doch eben
ein bisschen falsch interpretierte. Wir verstehen uns und ich fühle mich wohl.
Ich könnte die Augen schließen, wenn das nicht unpassend beim Fliegen wäre und
wenn mich das Licht nicht so sehr in den Bann ziehen würde.
Die Luft ist heute rein und klar.
Nur in einem sehr begrenzten Gebiet gibt es tolle Wolken, ich bin heute mitten
in diesem Gebiet. Dahinter ist fliegerisches Niemandsland. Im Niemandsland ist
der Himmel blau, hier bei mir bilden sich immer bessere Wolken, so dass ich
meinen Augen fast nicht traue. Wäre es nicht schon relativ spät (ich bin erst um
3 Uhr nachmittags gestartet), so lockten mich diese Wolken weiter in die Ferne.
So aber bleibe ich vernünftig mitten in der Unvernunft, die ein Segelflugtag
mitten in der Woche darstellt. Aber sie locken mich, sie rufen mich. Und ich
rufe zurück: jetzt nicht, aber wartet, im Frühjahr wird mich nichts halten.
Langsam bilden sich einige
Wolkenstraßen. Eine reicht vom Bodensee zum Schwarzwald. Nachdem ich anfangs am
Ostrand des Schwarzwaldes gespielt habe, tuckere ich nun unter der Wolkenstraße
entlang, zuerst in Richtung Schwarzwald, dann in Richtung Bodensee und
umgekehrt. Mein Flarm piepst: Da ist tatsächlich noch ein anderer Segelflieger.
Man muss auch gönnen können, solange es keine Horden sind. Irgendwann kreise
ich zusammen mit einem Ventus, natürlich auch mit Motor, er fliegt davon, ich
bleibe bei den Vögeln.
Die Vögel. Es sind so viele.
Überall treffe ich auf Greifvögel, dicht unter der Wolke in knapp 2.000 Meter
Höhe. Sie fliegen in Paaren, in Gruppen und wie immer zeigen sie mir ihr
Gefieder und ihre Krallen - der Apis 2 muss ihnen irgendwie Angst machen. Das
hatte ich ja schon bei anderen Flügen beobachtet. Aber es macht Freude so nah
mit ihnen zu sein, auch wenn ich immer auf der Hut bin.
Die Wolken laufen breit, der ganze
Himmel scheint nun, es ist 17:30, bedeckt zu sein. Aber natürlich steige ich
immer noch unter diesem Wolkenbrei. Ich fliege nach Südosten, Richtung Singen,
die Wolke saugt mich fast ein, ich husche durch Wolkenfetzen, bin kurz ohne
Sicht, Schwaden rechts, Licht rechts, dort, wo es hell ist, ist Westen, so kann
ich die Orientierung nicht verlieren. Und dann rausche ich ins wolkenlose
Nichts, hier beginnt das Niemandsland, ich wollte nur mal einen kurzen Blick
hinein werfen.
Am Rande des Niemandslandes gibt es
noch Wolken, aber diese sind tiefer. So gelingt mir etwas sehr, sehr seltenes.
Mit einem Segelflugzeug fliege ich über den Wolken. Es sind die Wolken, die
schon zu einer anderen Luftmasse gehören. Viel Zeit (bzw. Höhe) habe ich nicht,
um das Niemandsland zu erkunden. Noch ein Blick auf die Quellungen, die aus den
Alpen hochschießen, dann mache ich eine Umkehrkurve und fliege langsam zurück
zum Flugplatz.
Die Wolkenstraßen lösen sich
langsam auf, so langsam, dass ich es zunächst nicht wahrhaben möchte. Aber
unweigerlich ruft mich das Unten. Will ich nicht außenlanden, muss ich zurück
fliegen. Ich kreise und baue die zwischenzeitlich gewonnene Höhe ab. Gerne
würde ich noch bleiben, aber die wenigen Fetzen, die am Himmel übrig geblieben
sind, sprechen eine eindeutige Sprache. Dafür fällt das Sonnenlicht wunderschön
durch diese Fetzen und Lücken. Wie seidiges Haar, dass glänzt oder wie ein
Wasserfall, der aus unendlicher Höhe herabrauscht. Es ist so schön und es macht
mich gleichzeitig so traurig. Der ganze Himmel ist ein einziges 'momento mori'.
Der Verfall der Wolken mag physikalische Ursachen haben, was ich fühle, ist die
Angst vor der eigenen Vergänglichkeit.