25. Juli 2010

Flucht vor dem Gewitter

Ich schlendere gedankenverloren um den Flugplatz herum. Die Wolken scheinen gerade einmal in wenigen Metern über dem Boden über das Gelände zu huschen und in der Tat: hier ist die Basis für heute, hier befindet sich die Wolkenuntergrenze. Federleicht schweben die Wolkenfetzen über das Hochplateau, auf dem sich der Flugplatz Hornberg befindet. Der Wind hat sich gelegt, aber sie treiben immer noch schnell genug, um eine aufregende Kulisse für mein Auge zu bieten. Zwischen den Bäumen und vor den Büschen stauen sich Wolken. Aus einiger Entfernung sieht es so aus, als würden die Unterkünfte und die Hangars brennen, als schösse Rauch in die Luft. Aber es sind nur die Wolken, die sich von oben herabsenken, die feucht und schwer ihren unfreiwilligen Kurs durch die Nacht fortsetzen.

Dieser Sommer ist wechselhaft, das Wetter ärgert meine Fliegerseele. Noch vor ein paar Tagen waren wir von gewaltigen Gewittern umgeben. Der Schäfer, der seine Schafe immer in Flugplatznähe weidet, hatte meine Frau und mich eingeladen. Durch ein sprachliches Missverständnis war ich zu dieser Einladung gelangt: Der Schäfer fuhr mit seinem Auto am Tag vorher an uns vorbei. Wir umwanderten wie immer abends den Flugplatz. Er sagte etwas von „Zäunen“ und „helfen“ und ich verstand darin eine dringende Bitte, ihm dabei zu helfen, die Zäune seiner Schafweide einzusammeln. Am Horizont stand auch an diesem Tag ein Gewitter und so willigte ich, ohne weiter zu überlegen, ein. Wer um Hilfe bitte, so dachte ich mir, dem muss man helfen, egal, was man selbst gerade vor hat.

Der Schäfer fuhr davon und ich eilte ihm zu Fuß den Berg hoch hinterher. Ich war schon total erschöpft, als ich bei der Weide ankam, aber es sollte noch schlimmer kommen. Der Schäfer rollte die Zäune zusammen. Seine Schafe weideten auf einem halsbrecherisch steilen Abhang, einer der naturgeschützen Wachholderheiden dieser Gegend. Meine Hilfe geriet zum Balanceakt. Ich rutschte halb den Hang hinunter, halb fiel ich, buckelte immer zwei der zusammengelegten Zäune und schleppte mich dann wieder die steile Heide noch oben. Dort angekommen, rollte ich die Zäune zusammen, fachgerecht, so wie es mir der Schäfer vorher gezeigt hatte. Dann verstaute ich die Bündel im Auto des Schäfers. Diese Prozedur wiederholte ich einige Male. Bald konnte ich vor Muskelkrämpfen den Berg nicht mehr hoch laufen und musste einen Umweg nehmen, um die Steigung zu vermeiden. Von Schäferidylle war hier rein gar nichts zu spüren. Ich war schweißgebadet als mich der Schäfer, zufrieden mit meiner Arbeit entließ und zum Abschied meinte, dass seine Frage eigentlich nur ein Scherz gewesen sei. Er hatte einfach nicht damit gerechnet, dass ich ihm, derart plump auf der Straße angesprochen, helfen würde. Dennoch machte mir die Arbeit großen Spaß. Auch deshalb, weil ich einmal einen völlig unerwartenden Perspektivenwechsel vornehmen konnte.

Der Schäfer ermöglichte mir, das, was ich hier sonst tat, mit ganz anderen Augen zu sehen. Während wir Zäune einsammelten, schleppten und rollten, starteten immer wieder Schleppzüge vom Segelflugplatz. Die Weide befand sich unmittelbar in Verlängerung der Startbahn, jeder Flieger musste nach dem Start links an diesem Hang vorbei fliegen. Es war kein Tag für Streckenflüge, aber dafür wurde bei der Flugschule ausdauernd, Start um Start, geschult.

Während ich meine Zäune den steilen Berg hoch schleppte, sah ich den startenden Fliegern zu, und fühlte mich in meine Anfangszeit als Flieger zurückversetzt. Die Maschinen wurden am Start fertiggemacht, das Seil, das den Segelflieger mit der Schleppmaschine verband, wurde eingeklinkt, die Flügel waagerecht gehalten, der Startleiter funkte dem Schlepppiloten die Freigabe und dann setzte sich als Folge der Bewegung des Gashebels im Motorflugzeug der gesamte Schleppzug träge in Bewegung, nahm Fahrt auf und kam dann, schrittweise, der Segelflieger zuerst, dann die Schleppmaschine, in die Luft. Nur wenige Sekunden nach dem Abheben flogen sie dicht an uns vorbei und ich musste jedes Mal den Kopf heben und ihnen einen Weile nachsehen.

Dieses Nachsehen beinhaltete meine gesamte Sehnsucht, die Sehnsucht, die jeder Flieger kennt. Obwohl die Startvorgänge sich fast bis ins Detail gleichen, obwohl ich lieber selbst in meinem Flieger saß, obwohl an diesen Schulstarts nichts wirklich Besonderes oder Aufsehenserregendes war, musste ich den beiden durch ein Seil verbundenen Fliegern doch jedes Mal hinterher blicken. Sie stiegen gemeinsam in den Himmel, meist in einer weiten Linkskurve, dann klinkte in einer für das Übungsprogramm ausreichenden Höhe das Segelflugzeug aus, die Schleppmaschine tauchte links nach unten weg, sank so rasch sie konnte, warf dann das Seil neben der Startstelle ab und landete nach einer Steilkurve, bereit zum nächsten Start. Daran war, wenn man es ein paar Mal gesehen hatte, nichts Ungewöhnliches. Und trotzdem hefteten sich meine Augen immer wieder an die startenden Flieger, immer wieder blickte ich auf, verfolgte ihre gemeinsame Spur am Himmel, wartete darauf, das der Moment des Ausklinkens kam und war neugierig darauf, was danach geschah.

Ich erinnerte mich an meine ersten Starts, an die Fliegerschule, in der ich in die Regeln des Fliegens eingeweiht wurde, an meinen ersten Alleinstart. Aber dieses Nachblicken war mehr als nur diese billige Nostalgie. Es war die geronnene Geste der Sehnsucht nach dem Fliegen selbst. Der ewige Versuch, mit dem Mythos in Berührung zu kommen. Allein das Nachblicken reichte aus, um in einen anderen Bewusstseinszustand zu gelangen. Und wahrscheinlich gibt es einen tieferen Grund dafür, warum alle Flieger dieser Welt gerne Flugzeugen hinterher blicken. Und die, die Flugzeugen hinterher blicken, ohne selbst Flieger zu sein, wissen nur noch nicht, dass sie Teil dieses Mythos sind, Teil der Sehnsucht, den Himmel zu seiner zweiten Heimat zu machen – wie das Wolf Hirth einmal auszudrücken versuchte.

Ich vernachlässigte meine Arbeit beim Schäfer nicht, aber ich konnte doch nicht anders, als immer wieder die Kreise zu zählen, die der Segelflieger über mir in die Luft schrieb, niemand hätte sich über mich beklagen können, aber ich musste doch immer wieder nachsehen, ob der Flieger stieg oder sank. Und damit war diese Situation symptomatisch für mein ganzes Leben als Segelflieger. Natürlich tat ich, was in meiner Macht stand, um meine Arbeit richtig zu machen, natürlich wollte ich mich in meinem Beruf bewähren und die Anerkennung der anderen erhalten. Aber ich konnte einfach nicht anders, als bei allem, was ich tat, ans Fliegen zu denken, mich nach dem nächsten Flug zu sehnen oder mir zurückliegende Flüge in Erinnerung zu rufen. Niemand würde das auffallen (mit Ausnahme meiner Frau), aber dennoch verwandelte mich jeder Blick durch ein Fenster nach draußen, jedes bisschen Himmel, das ich an den Orten, an denen ich mich in meinem beruflichen Alltag befand, erblicken konnte, jede Wolke, die sich auf meiner Netzhaut abbildete, wieder in den sehnsüchtigen kleinen Jungen, der sich einst war, als ich das erste Mal einem Flieger hinterher sah, ohne dabei sagen zu können, was ich wusste, die einfache Tatsache, das auch ich fliegen wollte.

An diese Dinge konnte ich denken, während ich die Zäune schleppte und ich war dankbar für die Gelegenheit. So flog ich auch an diesem Tag, den ich am Boden verbrachte. Ich flog in Gedanken, wie so oft, an der Stelle der anderen. Doch ich sollte dem Schäfer noch mehr Einsichten verdanken, die mich mit mir und meiner Fliegerseele konfrontierten. Aber man sucht sich die Möglichkeiten nicht immer selbst aus, sie bieten sich im Leben, man greift zu, oder man verpasst die Chance für immer.

Am folgenden Tag lud uns der Schäfer, wieder im Vorbeifahren, zu einem Bier in seinen Schafstall, der sich am anderen Ende des Flugplatzgeländes befand, ein. Ich hatte diesen Stall schon bei so vielen Überflügen und Landungen gesehen, ohne zu wissen, was sich darin befand. Nun machten sich meine Frau und ich auf den Weg, den Schäfer dort zu besuchen. Ein kleiner Kiesweg führte uns dort hin, gesäumt von Wiesen, auf den sommerhohes Gras stand und in denen die Grillen ihr Orchester anstimmten.

Der Schäfer saß an einem kleinen Klapptisch, der vor der komplett geöffneten Westseite der Scheune stand. Beim Näherkommen wurde die Scheue, die aus der Ferne noch klein und niedlich ausgesehen hatte, immer größer und als wir vor dem offenen Hallentor standen, konnten wir über deren Volumen nur staunen. Der Schäfer hatte schon Stühle für uns aufgebaut, bot uns Bier, Lamm-Burger mit Senf und das „Du“ an, eine Kombination aus zünftiger Brotzeit und zwischenmenschlicher Nähe.

Wir redeten uns warm und um uns begann die Nacht. Die Tage wurden jetzt, Ende Juli, schon erkennbar kürzer. Bald saßen wir nur noch im Licht einer einzigen Kerze, die im Westwind flackerte und ab und zu erlosch, so dass irgendjemand sie wieder mit einem Streichholz entzünden musste.

Der Schäfer, der seinen Hut so gut wie nie abnahm, stellte uns ein paar halbherzige Fragen nach unserem Beruf, unserem Wohnort und den üblichen Dingen. Ansonsten erzählte er über sich, seine Schafe und die Schwierigkeiten seines Berufes. Willig, neugierig und fasziniert hörten wir ihm gerne zu. Es war eine fremde Welt, in die wir mit seiner Hilfe eintauchen konnten. Eine Welt, die wir nur aus Klischees kannten, von denen uns die Erzählung des Schäfers jedoch vollständig befreite.

Ich hatte schon die letzte Hoffnung abgegeben, außer meinem aktiven Zuhören einen erkennbaren Beitrag zur Gestaltung des Abends leisten zu können, als der Schäfer sich plötzlich an mich wandte. Er habe eine Frage, eine Frage, die ihn dringend interessiere, die er sich immer wieder frage, die ihn umtreibe und auf die er keine Antwort wisse. Und da ich nun mal Flieger sei, könne ich diese Frage vielleicht beantworten. Ich schaute ihn an, sein Gesicht war nie länger als einen Sekundenbruchteil zusammenhängend erkennbar. Das flackernde Kerzenlicht ließ ihn einmal als einen bärtigen weisen Mann erscheinen, der mit sonorer Stimme Weisheiten einer halb untergegangenen Welt verkündet, mal als einen zotteligen Teufel, der seine Fratze verzog. Ich fragte ihn, was er denn wissen wolle, was mit dem Fliegen, oder genauer, mit dem Segelfliegen zusammenhängt.

Er beobachte die Segelflieger schon so lange, fing er an. Und er frage sich, ob man denn unendlich hoch in den Himmel steigen könne, oder ob es da etwas gibt, was das Steigen begrenze. Plötzlich waren er, der Schäfer, und ich, der Segelflieger uns ganz nahe. Schon sein ganzes Leben lang lebt der Schäfer mit dem Wetter, beobachtet die Wolken und wagt auf der Basis althergebrachter Bauernregeln Prognosen, die für ihn und seine Schafe über Freund oder Leid entscheiden. Er weiß so viel mehr als ich über das Wetter, doch an diesem Punkt hatte er einen blinden Fleck. Ich erklärte ihm, alles über Thermik, was ich wusste. Erzählte, dass die Sonne die Luft niemals direkt erwärmte, sondern zuerst den Erdboden und dann, indirekt, die Luft. Malte mit meinen beiden Händen aus, wie die derart erwärmte Luft in Blasen vom Erdboden ausgehend aufstieg, höher und immer höher. Während ich so meine Hände in den dunklen Nachthimmel streckte, folgten ihnen die Blicke. Aber eben nicht unendlich, fuhr ich mit meiner Erklärung fort, sondern nur solange, bis sich die Luft abgekühlt hatte und genauso warm oder kalt war, wie die Umgebungsluft. An diesem Punkt, so schloss ich meine Erklärung, kondensiere die aufsteigende Luft, was man als Laie und vor allem als Segelflieger daran erkennen könne, dass ich eine Wolke bildet.

Mit dieser Erklärung war der Schäfer sichtlich zufrieden. Er lehnte ich zurück, sein Gesicht verschwand aus dem Lichtkegel der Kerze und er nahm wieder seinen Erzählfaden auf und berichtete aus seinem Leben als Schäfer, seinem Ärger mit der Bürokratie, dem Verfall der Preise und der Werte und vielen Dingen mehr, Themen, die um seinen Berufsstand schwirrten, wie Fliegen um einen Misthaufen, hartnäckig und ärgerlich, und sich einfach nicht vertreiben ließen.

Ich war müde und hörte nur mit einem Ohr zu. Und damit hatte ich Gelegenheit, halb zuhörend, halb abwesend, mich an meinen letzten Flug zu erinnern. Er war dramatisch und aufregend zugleich. Kein normaler Flug in normalem Segelflugwetter, bei dem einfach Kilometer um Kilometer abgespult wird. Sondern ein Flug für das Auge, eine ästhetische Luftwanderung und ein nervenzereissendes Überraschungspaket gleichermaßen.

Der Flug begann mit langsamen Vortasten bei noch mäßiger Thermik. Ich flog nach Osten, bis Ansbach, ein inzwischen bekanntes Terrain. Vor mir wurden die Wolken immer dichter und dichter. Mein Plan, Nürnberg zu umfliegen wurde immer unwahrscheinlicher. Das Wetter war labil, überall war mit plötzlich auftretenden Überentwicklungen zu rechnen. Ich zauderte innerlich, obwohl ich längst wusste, das mein ursprünglicher Plan nicht mehr realistisch war. Als mir dann aus dunklen, fast schwarzen Wolken nacheinander drei andere Flieger entgegenkamen, die tief unter mir ins Helle flüchteten, da ließ ich den letzten Widerstand fallen und drehte um. Dabei merkte ich, das mein Kompass nicht funktionierte, er klemmte und zeigte stur einen Südkurs, den ich niemals flog. Wieder eine kleine Panne, doch auch hiervon wollte ich mich nicht aufhalten lassen.

Ich wendete und hielt Kurs auf den Odenwald, noch weit im Westen. Mein Plan war damit hinfällig aber immerhin flog ich noch. Wäre ich stur weiter geradeaus geflogen, so wie es mein Plan von mir verlangte, wäre ich mit ziemlicher Sicherheit auf dem Acker gelandet. So flog ich immerhin noch, und gar nicht einmal schlecht. Unter einer Wolkenstraße raste ich nach Westen und war bald in einer Gegend, die ich noch nicht kannte. Nun brauchte ich ein neues Ziel. Ich studierte die Karte, so gut das mit einer Faltkarte in einem engen Segelflugzeugcockpit während des Fluges eben ging und entschied, bis nach Heidelberg und dann zurück zum Hornberg zu fliegen. Schon hatte ich den Neckar in Sicht, der sich tief in das Gelände eingrub. Nördlich davon begann der Odenwald. Die Topographie faszinierte mich, doch ich hatte nur wenig Zeit und Muße, mich darin zu vertiefen. Es gab einfach zu viel zu tun. Noch waren 30 km bis Heidelberg zu fliegen, ich konnte die Stadt schon im Dunst erkennen, vor allem aber sah ich das flache Rheintal, dass sich dahinter wie die Verheißung einer anderen Welt erstreckte. Genau über dem Heidelberger Schloss wendete ich und gedachte einen Moment lang Max Weber, dem großen Soziologen, dessen Wirken für immer mit Heidelberg verbunden war. Aber hier oben sollte ich kein Soziologe sein, der sich an den Gründervater seiner Wissenschaftsdisziplin erinnert. Meine Aufgabe bestand schlicht darin, umzukehren und den Weg zum Hornberg zu finden. Rechtzeitig zu finden. Ich hatte in meinem Fliegerleben noch nie einen derart schnellen Wetterwechsel erlebt, selbst in Australien ließen sich die Gewitter mehr Zeit. Während ich gerade noch den wunderschön von der Sonne beschienenen Odenwald bewunderte und versuchte, mir für den nächsten Flug ein paar markante Wegmarken einzuprägen, hatte ich im Norden ein gewaltiges Gewitter zusammengebraut, dass nach mir griff. Jedenfalls fühlte es sich so an.

Das Gewitter bildete einen riesenhaften Schirm, der sich zusehends über mich wölbte. Vor mir zogen sich die hellen Wolken zu einem dunklen Himmelvorhang zusammen. Das Wolkenfresko, das noch vor wenigen Minuten strahlend leuchtete und an dessen Verheißung ich mich erfreut hatte, war nun in dunklen Grautönen übertüncht, so als wäre ein himmlisches Verbot für alles Freudige, Schöne, Kraftvolle, Saubere und Strahlende erlassen worden. Und aus dem Grau wurde zusehends die Farbe Schwarz, die Farbe der ewigen Verdammnis. Nur noch vom Südwesten her leuchte die Sonne unter diesen Schirm und riet zu einer Fluchtrichtung. Doch ich musste in die andere Richtung. Was hätte es mir gebracht, jetzt in die falsche Richtung zu fliegen? Stattdessen wagte ich mich unter die Wolken, die wie ein flächig aufgerollter Tunnel am Himmel wirkten.

Es begann zu regnen und meine Hoffnung, heute noch auf meinen Heimatflugplatz zu landen, schwand. Ich maßregelte mich für meine Schwäche und meinen mangelnden Willen und begann klarer zu kalkulieren, anstatt mich von der umgebenden Tristesse nicht nur physisch sondern auch psychisch herabziehen zu lassen. Ich hatte noch ausreichend Höhe und konnte eine Weile durch leichten Regen fliegen. Eine Weile, das ist ein relativer Begriff bei dieser Art der Fliegerei. 400 Meter Höhe waren in 400 Sekunden verbraucht. Fünf, sechs oder sieben Minuten würde ich so noch fliegen können. Schon begannen meine Augen den Erdboden nach geeigneten Landefeldern abzusuchen. Ein Flugplatz war nicht in der Nähe, so dass ich mich auf eine Landung auf einer Wiese oder einem Acker einzustellen hatte.

Während ich mich so innerlich auf eine Außenlandung vorbereite, merkte ich, dass ich stieg. Mitten unter dieser fast nächtlichen Schwärze, mitten im Regen. Ich stieg im Geradeausflug und ich stieg selbst dann noch, als ich es wagte, einen vorsichtigen Kreis einzuleiten, dann den zweiten und dritten flog. So ging das eine Weile. Bald war ich, sanft aber stetig steigend, dort oben angekommen, wo die Wolke begann, die hier und heute nur aus einer amorphen Masse von Dunkelheit bestand und die umso bedrohlicher wirkte, je näher man kam. Aber ich hatte Höhe gewonnen und damit konnte ich weiter fliegen, in ein Gebiet, das weniger dunkel und bedrohlich war, zur nächsten Wolke. Man spricht nicht umsonst von Höhengewinn, in der Tat, diesen wenigen hundert Meter, die mir mein Höhenmesser jetzt mehr anzeigte, als noch vorhin, war wie die Ausschüttung eines Lottogewinns. Nun konnte ich mir den Luxus leisten, die nächste Wolke, die genau in Kursrichtung stand, anzufliegen.

Und damit hatte mich mein erstes Abenteuer, den Durchflug des Schauers, bestanden. Meine Zuversicht, die ich schon verloren geglaubt hatte, kam, wie jemand, der beinahe ertrunken wäre, wieder an die Oberfläche, ich fühlte mich schlagartig besser und kräftiger.

Dieser Zustand hielt jedoch nicht lange an. Noch hatte ich gut 70 Kilometer zu fliegen. Beim Kreisen unter der nächsten Wolke entdeckte ich, dass die schwarze Wolkenwand definitiv zu einem Gewitter gehörte. Und dieses Gewitter bildete nun einen Schirm aus, der sich bedrohlich über mich wölbte. Der Schirm und damit das Gewitter kamen immer näher.

Von diesem Moment an war ich auf der Flucht. Immer wenn ich beim Kreisen zurückblickte, konnte ich erkennen, wie sich das Gewitter in meine Richtung verschob. Und inzwischen schauerte es an mehreren Stellen kräftig. Kein Vergleich zu den wenigen Regentropfen, die ich vorhin abbekommen hatte, diese Schauer würden mich nach unten spülen, gerade so, als würde man an Insekt oder eine Spinne in den Ausguss spülen. Ich stieg unter den spärlichen Wolken, die mir auf meinem Weg zur Verfügung standen mehr schlecht als recht. Da ich kaum Höhe machte, konnte ich kaum vorfliegen. Da ich mich kaum vom Fleck bewegen konnte, kam das Gewitter immer näher. Ich musste entweder höher steigen um weiter vorfliegen zu können. Das aber würde Zeit verbrauchen, Zeit, in der mich das Gewitter gewiss einholen würde. Oder ich musste es versuchen, in niedriger Höhe weiterzufliegen, um erst einmal den Abstand zwischen dem Gewitter und mir zu vergrößern. Und dabei darauf hoffen, dass ich dabei noch irgendwo einen Aufwind finden würde, der mir wieder einen Höhengewinn versprach. Ein Blick nach hinten, ich hatte keine Wahl, so niedrig wie ich war, flog ich los.

Ich flog und flog und nichts rührte sich, die Luft war ruhig, wie eine gesperrte Autobahn. Ich wagte nicht, mich umzudrehen und nach hinten zu sehen. Noch ein paar Hundert Sekunden, dann war ich am Boden. Meine Neugierde wurde immer größer. Ich wollte wissen, ob ich es schaffte, dem Gewitter davon zu fliegen. Ein Kreis nur, dann würde ich wissen, ob sich der Abstand vergrößert hatte oder nicht.

Ich drehte und ich sah die wunderbarste Naturerscheinung, die mir je über den Weg gelaufen war. Eine Linie aus Licht zog sich von West nach Ost über den Boden. Wie mit dem Lineal gezogen trennte diese scharfe Linie den Bereich des Gewitters vom Rest der Landschaft. Ich ärgerte mich, keinen Fotoapparat griffbereit zu haben. Das Gewitter warf einen Schatten auf den Boden, einen Schatten, der von seinem Schirm gebildete wurde, der sich in vielen Kilometern Höhe, in eisiger Kälte gebildet hatte. Unter dem Schirm war es Nacht. Lokale Schauer gingen nieder, die mir wegen ihrer Intensität Angst machten. Vor dieser Linie war die Welt noch in Ordnung, der Sommer hell und freudig, kein Regen, kein Schatten, gerade so, als gäbe es nie etwas anderes. Ich war wenige Kilometer von dieser Trennlinie aus Licht entfernt. Noch war ich vor ihr.

Ich musste unbedingt im Hellen bleiben, wenn ich überhaupt eine Chance haben wollte, nach Hause zu kehren. Ich kreiste dort, wo sich mir ein Aufwind anbot, jetzt war keine Zeit mehr, wählerisch zu sein. Immer kamen ein paar Meter heraus. Meter, die ich auf meiner Flucht vor dem Gewitter sofort wieder in Strecke umsetzte, den nächsten Aufwind suchend, den nächsten Höhengewinn verbuchend und so fort in einer Reihe, ohne groß nachzudenken, denn ich wollte nur fort, fort von diesem Ungetüm, dass nach mir griff, das die Macht hatte, mich zu zerstören. Und irgendwann, nach vielen tastenden Versuchen, bemerkte ich, dass sich der Anstand zwischen dem Gewitter und mir vergrößert hatte. Ich entspannte meinen Körper, denn ich hatte gar nicht bemerkt, wie sehr ich mich verkrampft hatte.

Doch die eine Gewissheit bedeutete nunmehr nur eine neue Ungewissheit. Ich war mir nun sicher, dass mich das Gewitter nicht mehr erreichen würde, doch ob die Höhe, die ich nun hatte, für meinen Endanflug reichen würde, war mehr als ungewiss. Aber ich war beflügelt. Ich glaubte an mich. Ich war bis hierher gekommen, nun würde ich auch den Rest schaffen. Schlingernd flog ich in der Luftmasse umher, suchte nach meinem letzten Aufwind des Tages. Und wie so oft fand ich ihn dann dort, wo ich ihn nie vermutet hätte, unverhofft, doch wer will wohl in einer derartigen Situation undankbar sein und die Realität am Maßstab irgendwelcher Theorien prüfen?

Nach endlosen Kreisen mit äußerster Konzentration, Kreisen, von denen mir jeder in kaum messbaren Maßstäben Höhe schenkten, die aber in der Summe dann doch den Unterschied machten, fiel mein Blick auf den Höhenmesser. Und dann war ich mir sicher: Ich würde es schaffen. Ich ging in den Geradeausflug über und flog, so ruhig es ging, auf das Fluggelände zu. Dort kam ich gerade noch mit genug Höhe an, um in einem Direktanflug auf der Piste auszusetzen.

7. Juli 2010

Solange die Sonne scheint

Solange die Sonne noch scheint, werde ich fliegen! Diesen Satz sage ich mir immer wieder leise vor, um mich zu motivieren. Ich will auf keinen Fall aufgeben. Ich will weiter fliegen! Ich will länger fliegen, als alle anderen. Fliegen ist nicht nur der Sieg über die physischen Grenzen des Menschen, der zum Gleiten in der Luft offensichtlich nicht geboren wurde. Fliegen, das bedeutet vor allem auch den Sieg über selbstgemachte psychische Begrenzungen.

Schon kurz nach meinem Start war mir klar, dass es heute nicht leicht werden würde, beide Grenzen zu überschreiten. Das erste Mal rollte mein Flieger treu der Schleppmaschine hinterher, ohne die üblichen Ausbruchversuche nach links oder rechts zu unternehmen. Irgendwann bemerkte ich dann, dass ich die Wölkklappen irrtümlicherweise auf -7 Grad gerastet hatte, ein Irrtum, der mir den ersten ruhigen Start verschaffte, seit ich versuchte, mich mit diesem Flieger anzufreunden. Ich korrigierte die Stellung der Wölbklappen und nahm daraufhin eine normale Position hinter der Schleppmaschine ein. Diese zog mich makellos sauber, ohne sich weiter um meine Anwesenheit zu kümmern in den Himmel. Dieser war von Cirren-Wolken gezeichnet, was nichts Gutes verhieß. Außer dem Steigen der Schleppmaschine machte ich keine Aufwärtsbewegung beim Blick auf mein Variometer aus. Den Blick konnte ich mir sowieso sparen. Nichts rüttelte, alles war wattig-ruhig, eine Luft, die einen Segelflieger so gar nicht passt. Es sind die warmen Aufwinde, die sich als Böen und Turbolenzen ankündigen, die wir suchen. Wir sehnen uns nach dem Schütteln der Flügel, die, nur scheinbar unwillig kundtun, dass es sich an einer bestimmten Stelle im dreidimensionalen Raum, in dem wir uns bewegen, lohnen wird, zu kreisen. Und dann kreisen wir in dieser warmen Luft glücklich empor.

Davon war heute nichts zu spüren. Enttäuschung machte sich bei mir breit, noch ehe ich hinter der Schleppmaschine ausgeklinkt hatte. Ich hörte, wie sich der Segelflieger, der vor mir gestartet war, in der Platzrunde zur Landung meldete: Abgesoffen. Gleich, so war ich mir sicher, ging es mir ähnlich, eine unumkehrbare Logik würde mich wieder nach unten zwingen. Nicht die Schwerkraft zieht uns nach unten, wie man allgemein sagt, es ist der fehlende Auftrieb.

Obwohl erst kurz nach Mittag, war der Himmel nicht wie sonst voller Licht. Graue, immer dunkler werdende Wolkenschleier zogen von Norden herein. Eine Abschirmung breitete sich aus. Der Name passte: Wie ein Schirm sperrten sich die Wolken zwischen Himmel und Erde. Wie ein Schirm schatteten sie den Boden ab, so dass die Sonne keine Chance hatte, die erdnahen Luftschichten zu erwärmen. Wo sollten hier noch Aufwinde entstehen? Kein Vogel weit und breit, der mir zeigen konnte, wo sich vielleicht doch noch ein schwacher Luftkanal mit warmer Luft befand. Kein Anzeichen für Thermik in Sicht.

Ich klinkte einfach aus und ließ die Schleppmaschine nach links wegkippen. Es hatte keinen Sinn mehr, einfach immer weiter hinter dem kleinen Tiefdecker herzufliegen. Obwohl ich mir sicher war, dass der Flug kaum mehr als 5 Minuten dauern würde, fuhr ich das Fahrwerk ein und stellte das elektronische Variometer lauter. Zu meiner großen Überraschung piepste es, schwach, aber stetig und deutlich. Auch wenn ich es nicht glaubte, hier ging es nach oben. Also versuchte ich, diesen schwachen Thermikbart so gut es ging zu halten. Ich bemühte mich, zu erspüren, wo es nach oben ging. Das war erstaunlich einfach, und ich freute mich darüber, in einem Flieger zu sitzen, der mich mit solch feinfühligen Signalen versorgte. Mal hob sich die Nase leicht, nur um dann, ein paar Meter weiter, wieder zu sinken. Mal zitterte der linke Flügel, nur um sich eine Sekunde später wieder in die Horizontale zu begeben. Dann konnte ich mir, auch ohne Anzeigeinstrument, sicher sein, dass sich an diesen Stellen warme Luft in den Himmel hob, die sich nicht darum scherte, meinen Flieger und mich als Beiwerk mit nach oben zu befördern.

Ich tippte ins Seitenruder, um den Signalen zu folgen. Das Piepsen des elektronischen Variometers zeigte mir, dass meine Reaktion richtig war. Ich versuchte mich in engen Kreisen an den Aufwind anzuschmiegen, von dem ich, obgleich er unsichtbar war, eine räumliche Vorstellung hatte. Immer wieder musste ich das Bild in meinen Kopf korrigieren, weil sich die Natur mehr oder weniger widerspenstig verhielt. Die empirische Welt verhält sich immer widerspenstig unseren Vorstellungen gegenüber, meist glauben wir sogar, die Welt müsse sich unseren Vorstellungen anpassen und nicht umgekehrt. Aber irgendwo in der Mitte trafen sich Vorstellung und Wirklichkeit. Mit einem minimalen, gerade noch anzeigbaren Steigen hielt ich mich in der Luft. Ich vertraute den Gesetzen der Natur. Solange die Sonne schien, musste sich irgendwo Luft erwärmen. Solange die Sonne schien, würde es mir hier oder dort gelingen, meine Kreise so zu fliegen, dass ich mich in der Luft halten konnte.

Und nun sogar das: Ich spürte, wie ich gehoben wurde, es ging also noch. Das Variometer zeigte mir an, dass ich sogar mit zwei Metern pro Sekunde stieg - ein Traum, der nicht lange anhielt. Aber dennoch konnte ich einen guten Meter Steigen gewinnen und fand mich 3 Minuten später 200 Meter höher. Erstmals höher als beim Ausklinken freute ich mich über diese neue Perspektive.

Das war sicherlich kein großer Flug. Keiner, der mich über hunderte von Kilometern über Land führte. Gerade mal 15 Kilometer wird mir mein Logger nach der Landung ausrechnen. Für OLC-Junkies ein Witz! Eine Strecke, die man auch noch als Wanderer an einem Tag bewältigen kann. Aber die Qualität dieses Fluges lag darin, dass ich etwas für mich erreichen konnte, an das ich anfangs nicht geglaubt hatte! Alle anderen Flieger landeten nach weniger als zehn Minuten wieder. Ich aber taumelte wie ein Blatt durch die Luft, in jene Richtungen schwankend, die mir für ein paar Sekunden Auftritt versprachen. Und diese Rechnung ging erstaunlicherweise auf. Und ich freute mich wie ein Kind, das ein Spielzeug findet, das anderen nicht haben.

Der Himmel wurde immer trüber, das Grün der Sommerwiesen immer weniger einladend. Im Schatten verliert sich jeglicher Reiz einer Landschaft. Aber ich wusste, oder ahnte, dass der Boden, der von der Sonne erwärmt worden war, noch nicht alle seine Kraft verloren hatte. Dort war es der Steinbruch, der mich anlockte, drüben ein kleines Dorf, das seine Restwärme abgab. Immer reichten mir die schwachen Luftblasen, die von diesen Stellen abgesondert wurden, um mich in einer erträglichen Höhe über dem Grund zu halten.

Dieses kleinräumige Fliegen schulte das Auge. Ich sah die Landschaft ganz anders als sonst. Ich achtete auf kleinste Details. Auf die Neigung von Hängen, den Bewuchs einer Gegend, die Form eines Tales, die Schroffheit einer Felswand, Treppenstufen in der Topografie, die vielleicht dazu nützlich waren, die Luft in meinem Sinne nach oben umzulenken. Wer so fliegt, wie ich es tat, der sieht fast mit den Augen eines Vogels. Und damit war dieser kleine Flug von dem ich mich nun verabschiede, näher an dem, was Fliegen tatsächlich ausmacht, als die raumgreifenden Flüge, bei denen Strecke um Strecke blind und oberflächlich zurückgelegt wird, weil es am Abend nur auf eine Zahl ankommt, die der Logger ausspuckt und die angeblich die Flüge der einzelnen Flieger vergleichbar macht.

Mein Flug heute war in seiner Einfachheit unvergleichlich. Die Leistung bestand allein darin, dass ich noch flog, während das andere nicht mehr für möglich hielten. Dadurch, dass ich mich „in der Luft hielt“, wie man sagte, wurde ich ein Teil dieser Luft. Das aber, das Verlöschen der Grenzen des irdischen Daseins, das Verschmelzen des Körpers mit dem Himmel, war doch der Traum, aus dem heraus sich einst der erste Mensch in die Lüfte erhoben hatte. Ich war diesem Traum, bei einem äußerlich unscheinbaren Flug, näher als sonst.

6. Juli 2010

Zugewinn an Selbstvertrauen

Der Asphalt vor dem Flugzeughangar ist um diese Zeit noch nicht so angenehm warm, wie sonst am Abend. Es ist noch früh am Morgen, gerade erst geht die Sonne über den Hügeln der Ostseite der Landepiste auf. Das Gras, das am Abend zuvor im Vollmondlicht gemäht wurde, verströmt den unverwechselbaren Duft von Sommer, der sich seit meiner Kindheit in mein inneres Universum eingeschrieben hat. Ich setze mich auf eine Bank vor dem Hangar, meine Frau lehnt ihren Kopf liebevoll an meine Schulter. Ich war schon früh aufgewacht und musste immer wieder an den großen Flug des Vortages denken. Wie konnte ich meiner Frau ein solches Erlebnis nahebringen? Was war von den Empfindungen, die ich in einer so ganz anderen Welt gesammelt hatte, überhaupt vermittelbar? Ich erinnerte mich an den Flug des vorherigen Tages.

Irgendwie hatte ich an diesem Tag gespürt, dass ich etwas Neues wagen würde. Der Wetterbericht sagte großflächig gute Thermik voraus und ich zögerte nicht, meinen Flieger nach dem Frühstück sofort startklar zu machen. Wir schoben ihn gemeinsam an den Start, so dass ich jederzeit bereit war. Nachdem sich die ersten Wolken gebildet hatten, begann der Himmel zu brodeln. Es ging fast schneller, als man sehen konnte. Hier ein Wolke, dort ein par Fetzen, die sich schnell zu einem Haufen zusammenschlossen und schnell riesige Himmelsballen bildeten. Ballen, aus denen dann die nächste Wolke rasant emporwuchs.

Ungeduld stieg in mir auf, mir war klar, dass ich mittlerweile schon zu lange gewartet und Zeit vergeudet hatte. Ich war keiner von denen, die mit einem Messer zwischen den Zähnen flogen und abends weinten, wenn sie zwei Kilometer weniger geflogen waren, wie ihre Kameraden, aber ich war leistungsorientiert. Ich wollte weit kommen, hauptsächlich deshalb, um nicht immer dieselbe Landschaft unter den Flügeln zu haben. Ich brauchte Abwechslung, wollte neue Berge, Flüsse, Städte und Gegenden erkunden.

Denn mit dem Fliegen war es, wie mit vielen anderen Dingen im Leben auch. Nur wenn die richtige Portion Herausforderung mit dem verbunden war, was man tut, ist es der Mühe wert. Weder wollte ich mich überfordern, noch unterfordert sein.

Es hat lange gedauert, bis ich diese wichtige Lektion gelernt hatte: Nur wenn die richtige Entwicklung mit dem Fliegen verbunden war, war das Ganze sinnvoll. Nach einem langen Tag in der Luft, auf dem gemeinsamen Weg zum Abendessen fragte mich eines Tages ein Segelflieger, worin mein Ziel beim Fliegen bestehen würde. Ich war von dieser Frage wie gelähmt, hatte ich doch bis dahin angenommen, das Fliegen nicht weiter begründungsnotwendig sei. Ich dachte immer, dass das Segelfliegen an sich schon der Grund sei, dass es sich sozusagen aus sich selbst heraus erklärte. Doch das war falsch. Wie mir in dieser Sekunde plötzlich klar wurde, gibt es viele Gründe, warum Menschen fliegen, vor allem aber solche, die ihnen selbst nicht bewusst sind. Warum war ausgerechnet ich Segelflieger geworden? Was trieb mich immer weiter und weiter? Warum konnte ich, trotz vieler Erschwernisse und Ärgernisse nicht darauf verzichten? Und wenn ich es doch einmal darauf verzichtete, einer Frau zuliebe etwa (früher), warum litt ich dann und nahm letztlich lieber in Kauf, die Beziehung zu beenden, als das Fliegen aufzugeben?

Mir war einfach nicht klar, warum ich es wirklich tat. Und mir war ebenso wenig klar, welche Herausforderung ich wirklich suchte. Mit anderen Worten: Die Entwicklung, zu der das Segelfliegen für mich gehörte, war mir selbst ein Rätsel. Ein anderer Flieger erzählte mir beim abendlichen Grillen davon, wie er sich von der Meinung der anderen (scheinbar) freimachte und seinen eigenen Weg ging, wie er versuchte, durch das Fliegen für sich selbst zu wachsen. Doch worin bestand dieses Wachstum, über einige diffuse und meist nachgeplapperte Worte hinaus nun wirklich?

Nun war es Zeit. Ich startete als Zweiter. Schon in niedriger Schlepphöhe gab es kräftige Schläge unter den Flügeln, das Motorflugzeug, dass mich in den Himmel zog, wurde immer wieder von den unsichtbaren Kräften, die hier zugange waren, so schnell hochgehoben, dass ich Mühe hatte, ihm durch einen Zug am Steuerknüppel zu folgen. Mir war klar, dass ich schon eine halbe Stunde früher hätte starten sollen. Nachdem ich ausgeklinkt und nach rechts weggedreht hatte, wurde dieser Eindruck nur noch bestätigt. Schon die erste Wolke zog mich rasch immer höher und höher. Mühelos erreichte ich die Basis, dachte noch kurz an meine Frau, die mir vielleicht vom Boden aus mit ihren Blicken gefolgt war und flog dann in nordwestlicher Richtung davon. Ich wollte keine Zeit verlieren und nahm so direkt es ging Kurs auf das Nördlinger Ries, dass ich wegen eines Tiefflugmanövers der Luftwaffe nordwestlich umrunden musste. Mit hoher Geschwindigkeit hüpfte ich von Wolke zu Wolke, jede empfing mich dort, wo ich es erwartete mit guten bis sehr gutem Steigen, so dass ich mich schon bald links neben dem markanten Hesselberg wiederfand, der sich gut von der sonst eintönigen Landschaft abhob und mir als Wegzeichen diente.

Es war noch recht dunstig, die Sicht schlechter als sonst, so das ich meine nächsten Wegpunkte, den Altmühlsee und die Brombachtalsperre mehr erahnen als sehen konnte. Mein Plan war es, südlich um Nürnberg herumzufliegen. Doch dieser Tag und diese Gegend schienen verhext zu sein. Im Gebiet um die Seen hatte ich schon immer meine Schwierigkeiten. Heute tastete ich mich bis nach Roth vor und musste dann damit kämpfen, meine Wahrnehmung der äußeren Welt mit meiner inneren Vorstellung in Übereinstimmung zu bringen. Der Himmel wurde immer dunkler und die Wolken zogen sich zu einem bedrohlich wirkenden Brei zusammen. Hier war kein Weiterkommen möglich. Noch während ich darüber nachdachte, was ich nun tun sollte, schoss ein anderer Segelflieger an mir vorbei. Es kam mir vor wie in Bote, der mir sagen sollte, „Dreh um, hier geht es nicht weiter. Siehst du es nicht, auch ich drehe“. Egal wer oder was mir hier eine Botschaft sandte, sie war inzwischen klar. Ich könnte auf meinem Plan bestehen und versuchen, unter dieser Abschirmung hindurch bis nach Regensburg fliegen. Wahrscheinlich würde ich mich dann in weniger als einer viertel Stunde auf einem Acker wiederfinden und über meine Dummheit fluchen. Ich könnte aber auch einfach umdrehen und in Kauf nehmen, dass ich 50 Kilometer Strecke umsonst geflogen war, die mir heute Abend in meiner Gesamtbilanz fehlen würden. Dafür hätte ich noch den ganzen Tag vor mir.

„Wer A sagt muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, das A falsch war.“ (B. Brecht). Also drehte ich und schon Minuten später befand ich mich trotz dieser guten Entscheidung in Schwierigkeiten. Mein E-Vario spielte verrückt und zeigte mir traumhafte Steigwerte, obwohl ich mich rasend schnell im Sinkflug geradeaus befand. Mir blieb nichts anderes übrig, als es immer wieder ein- und auszuschalten. Als das alles nichts half, schaltete ich es einfach ab.

Plötzlich war es ungewohnt still im Flieger. Das also bedeutete Segelfliegen. Der nervöse Klangteppich, der sich sonst den ganzen Flugtag lang über meine Ohren legte, war weg, ich hörte nur noch mein eigenes Fahrgeräusch, meinen Atem und einen Luftzug, der durch das geöffnete Seitenfenster kam, ein leises Zischen, dass mich wie immer beruhigte, denn es signalisierte mir, dass ich mich angemessen schnell in dieser fremden Umgebung bewegte.

Während ich mich mit den technischen Problemen beschäftigen musste, fehlte mir die Aufmerksamkeit für die Thermik. Ich hatte, da ich gegen den Wind fliegen musste, rasch an Höhe verloren. So viel, dass ich jetzt nur noch ausreichend Höhe hatte, um eine dicke Wolke voraus anzufliegen. Sie war für den Moment meine einzige und letzte Chance. Direkt über der Stadt Ansbach stieg ich in einem mächtigen Aufwindkanal unter der Wolke ein, der mich rasch wieder in eine komfortable Höhe und entspannte Stimmung brachte. Ich sah den militärischen Landeplatz, auf dem in mehreren Reihen Kampfhubschrauber standen. Ich drehte auf Nordkurs. Jedenfalls so gut es ging, denn mein Kompass war auch defekt. Das war mir schon beim letzten Flug aufgefallen, aber ich hatte bisher keine Zeit gehabt, ihn auszutauschen. Jetzt musste ich genau navigieren, damit ich nicht in das Flugbeschränkungsgebiet von Nürnberg einflog. Aber zum Glück kannte ich die Strecke grob von einem Flug der letzten Woche und peilte eine Wolkenlinie über dem Steigerwald an. Ich beschloss zum Flugplatz Burg Feuerstein zu fliegen. Bamberg war also mein nächstes Etappenziel. Unter der Wolkenstraße raste ich so schnell es ging nach Norden, hielt immer ein wenig gegen den Westwind, damit ich nicht aus Versehen in das Flugbeschränkungsgebiet getrieben wurde. Dabei stellte sich schnell ein rauschartiges Vergnügen ein. Zwar wusste ich, dass eine solche tragende Linie nicht ewig halten würde, aber allein die Vorstellung, ich könnte ewig so weiterfliegen, hob meine Stimmung in Richtung ungehemmter Euphorie. Ich begann zu singen und meinen Flieger zu loben. Rechts tauchte inzwischen in der weniger dunstigen Luft die Stadt Bamberg auf, gut erkennbar an der Regnitz und dem parallelen Kanal. Aber wo war der Feuerstein? Vor über 20 Jahren hatte ich dort das Fliegen gelernt, alle meine Ersparnisse zusammengekratzt und nach zwei Wochen flog ich das erste Mal alleine. Damals war meine Welt die Platzrunde. Der nächste Flugplatz, die Friesener Warte, nur ein paar Kilometer entfernt, gehörte damals noch zu einer anderen Welt. Heute war ich so hoch, dass ich Schwierigkeiten hatte, die beiden Plätze zu finden.

Doch die Erinnerung kam wieder. Obwohl es so lange her war und obwohl ich die Welt damals mit anderen Augen sah, erinnerte ich mich an die groben Eckpunkte. Da war der Turm, dort der schroffe Abhang, das Plateau darüber war der Flugplatz, der wie ein L aussah. Irgendwo im Osten kreiste ein weiterer Flieger. Der Himmel müsste voll sein mit Segelfliegern, aber es war ein Dienstag und kein Wochenende. Mit gut 2000 Metern Basis flog ich von meinen Wendepunkt ab, nicht ohne vorher noch drei völlig unnötige große Kreise gedreht zu haben, weil ich mir diesen Blick und diesen für mich historischen Moment einprägen wollte. Aber irgendwann riss ich mich los, der Tag war noch lang. Zum Glück war ich schon um 11 Uhr gestartet und obwohl das eine halbe Stunde zu spät war, hatte ich noch viel Zeit vor mir. Ich wollte als nächstes zur Wasserkuppe und von dort zurück zum Hornberg. Da aber mein Kompass kaputt war, flog ich statt nach Nordwesten einen zu starken Nordkurs. Es ging schnell voran, die Bärte zogen gut, so dass ich mir keine Sorgen machte. War das schon die Rhön? Ich studierte die Karte und schaltete mein GPS an, dass ich nur mit einem Akku betrieben konnte und das daher meistens ausgeschaltet blieb. Ich befand mich südlich von Coburg. Nun hatte ich ja, was ich suchte: Neuland.

Noch nie war ich vorher hier gewesen, weder mit dem Segelflieger noch mit dem Motorsegler. In meinem Kopf gab es dazu keine noch so groben geografischen Informationen, die ich hätte abrufen können. Ich wusste nur, dass hier vor knapp 20 Jahren die ADIZ verlief, die Grenze zur damaligen DDR. Langsam dämmerte es mir. Dann musste die langgezogene Bergkette vor mir, ja, das musste der Thüringer Wald sein. Ich fluchte und freute mich zugleich. Ich fluchte, weil ich einen Abstecher gemacht hatte, der eigentlich gar nicht im Programm vorgesehen war. Und ich freute mich, weil ich wusste, dass dies ein gigantischer Flug werden würde. Unter einer Bedingung allerdings: Ich musste es noch zurück schaffen. Und das konnte ich mir in diesem Moment beim besten Willen nicht vorstellen. Nun aber nutzte ich erst einmal die gute Thermik am Thüringer Wald aus und beschloss, mir später Sorgen zu machen.

Zwei, drei Wolken und beherztes Vorfliegen und ich war einen großen Sprung weiter. Doch wo war ich? Meine Karte endete schon lange. Sie war so ungünstig gefaltet, dass ich sie erst im Flug umknicken musste. Das war nicht einfach. Ich hantierte mit der großen Karte, die ich aus vier Teilkarten zusammengeklebt hatte. Ich hatte keine andere Chance, als eine Minute lang blind zu fliegen. Ich konnte die Karte nur umklappen, wenn ich mir selbst die Sicht versperrte. Und was sah ich dann? Ich befand mich zu meinem eigenen Erstaunen in Suhl. Jetzt wurde mir wirklich mulmig. Genau in diesem Moment flog ich auch aus dem Aufwind und sank immer tiefer. Ich stellte mir vor, wie ungläubig alle am Hornberg reagieren würden, wenn ich hier auf einem Acker landen müsste, anrief und meine Position durchgab. Ich beschäftigte mich so sehr mit den vorweggenommenen Lästereien, dass ich mich kaum noch auf die Thermiksuche konzentrieren konnte. Endlich ermahnte mich eine vernünftige Stimme in mir. Ich riss mich zusammen, kreiste so sauber, wie es nur ging und arbeitete mich aus tiefer Höhe wieder nach oben. Fürs Erste war ich sicher, aber ich zweifelte nun daran, den Flug erfolgreich beenden zu können. Ich musste besser bei der Sache bleiben und mich nicht mit Dingen beschäftigen, die hier oben keine Rolle spielen. Wenn ich flog, musste ich fliegen. Sonst nichts. Um die Reaktionen der anderen konnte ich mich nach der Landung kümmern. Das war einfacher gesagt, als getan. Nun aber endlich zur Wasserkuppe. Ich war schon viel weiter nördlich als ich wollte und für heute war das definitiv genug. Ich wollte mein Blatt nicht überreizen.

Leider wurde nun das Wetter zusehends schlechter. Die Aufwinde wurden schwächer, die Basis sank ab. Dennoch hielt ich Kurs „West“ – so gut das ohne Kompass ging – auf die Wasserkuppe zu. Es war ein lang gehegter Traum von mir gewesen, den Berg der Flieger vom Hornberg aus zu erreichen. Nun war ich kurz davor. Aber welchen Preis würde ich dafür zahlen müssen? Hatte ich noch eine reelle Chance, zurückzufliegen? Immer wieder mahnte ich mich innerlich und manchmal auch mit lauter Stimme, einen Schritt nach dem anderen zu machen. Was sonst machte ich dieser Welt, in der ich mich befand, Sinn?

Von der Wasserkuppe aus drehte ich auf Heimkurs. Nun reichte es. Es war 16 Uhr und mir erschien es kaum noch möglich, den Weg zurück zu schaffen. Immer wieder rechnete ich im Kopf die Strecke und die verbleibende Zeit durch. Ich war schlecht auf einen solch großen Flug vorbereitet, eigentlich gar nicht. Von der Wasserkuppe aus kannte ich zumindest den ungefähren Weg zurück. Irgendwann erschienen im Dunst die Kühltürme des Kernkraftwerkes von Schweinfurt. Diese Wegmarke machte mir Mut, zumindest kannte ich diese Gegend aus meiner Würzburger Fliegerzeit. Aber das Wetter wurde nicht besser. Die Wolken trockneten ab und ich verlor das letzte bisschen Mut, dass ich noch in den Knochen hatte. Ich aß mein letztes Brot auf, um nicht unterzuckert zu sein, trank ein paar Schlucke Wasser und sah dem Elend ins Auge. Ich musste gegen den Wind, der stramm aus West kam, kreuzen. Die Wolken verschwanden. Ich war noch 150 Kilometer weit weg von meinem Heimatflugplatz, mein Kompass funktionierte nicht, die Gegensonne blendete. Ich wusste nicht so genau wo ich war, auch wenn ich da vorne irgendwo die mir vertrauten Kühltürme sah. Aber vor allem: Ich war tief. Sehr tief.

Querab von Bad Kissingen schaltete ich das GPS an. Was nützte es mir, die Batterien zu schonen, wenn ich bald landen musste. Zum Glück zeigte es mir an, dass ich mich in nur 5 Kilometern Nähe eines Flugplatzes befand. Ich sah nach rechts, tatsächlich, da war er. Eine schöne lange Piste. Ich entspannte mich, streckte meine Beine, entkrampfte meine Finger. Mit dieser Sicherheit in Reichweite konnte ich munter drauf los probieren. Ich flog also einige der Schleier an, denn Wolken gab es inzwischen keine mehr. Zu meinem großen Erstaunen hob mich die unsichtbare Thermik ganz gewaltig nach oben. Es ging also noch. Die Thermik war so stark, dass ich mir ausrechnete, dass ich mit etwas Glück noch von zwei Stunden Thermikdauer ausgehen könnte. Also munter weiter, dem Süden entgegen.

Das Licht war gleißend hell und blendete mich. Ich nahm grob Maß und flog ab, den Kühltürmen entgegen. Dort über der Stadt Schweinfurt kam ich tief an. Aber immerhin wusste ich nun, wie das Spiel heute laufen würde. Ein stetiges Vortasten gegen den Wind, das Ausnutzen unsichtbarer Kräfte am Himmel. Es war, also würde man die Luft anhalten, um über eine Mauer zu balancieren, von der man zu beiden Seiten herunterfallen kann. Ich versuchte so sauber wie möglich zu fliegen, um keine Schiebewiderstände zu erzeugen. An den Dampfwolken, die aus den Kühltürmen drangen, sah ich die Windrichtung am Boden und konnte mir die Stärke in meiner Höhe erahnen. Direkt vor den Kühltürmen drehte ich in einen Bart ein und gewann wieder ein paar hundert Meter Höhe. Mit jedem Strich, den der Zeiger auf dem Höhenmesser nach oben überschritt, gewann ich wieder ein wenig an Zuversicht. Aber es war noch so weit! Und schon so spät. Ich rechnete mir meine Chancen aus und kam auf kein besseres Verhältnis aus 70 zu 30. Gegen mich.

Bei der Volkacher Mainschleife, die ich auch noch von meinem Flug letzte Woche kannte, kreiste ich über den Weinbergen nach oben. Dann an Würzburg vorbei. Mein GPS zeigte mir, dass ich es bis dorthin schaffen würde. Es war 17 Uhr und ich verspürte den Drang, einfach aufzugeben. Ich kannte Würzburg. Dort in der Nähe lebten meine Eltern, sie würden mich abholen und ich könnte am nächsten Tag den Anhänger für das Flugzeug holen. Wie praktisch. Wie einfach. Wie unmöglich. Ich machte mich von dieser Suggestion los und versuchte mich endlich wieder auf meine Aufgabe zu konzentrieren. Und die bestand darin, so nahe wie möglich an den Hornberg zu gelangen. Schaffen würde ich es nie, dessen war ich mir inzwischen sicher.

Ab Kitzingen, wo ich noch einmal einen guten Aufwind im Blauen fand half mir die Autobahn, die A 7 als Leitlinie. Ich wusste, dass bei Südkurs irgendwann Rothenburg auftauchen müsste. Und da war auch schon die Stadt. Wenn ich dort landete, wäre es keine Schande mehr. Ich machte den Flugplatz zwischen Stadt und Autobahn aus, sah einen Motorflieger starten und merkte mir die Start- und Landerichtung. Dennoch flog ich weiter nach Süden, ich konnte ja jederzeit umkehren. Direkt über der historischen Altstadt bekam ich Anschluss an einen warmen Luftstrom, der nach oben stieg. Und ich mit ihm. Jetzt nicht nachlassen, nicht unsauber fliegen. Steil bleiben. Die Fahrt wegnehmen, die Trimmung optimieren. Die Aufwinde waren längst nicht mehr stark, aber es reichte aus. Ich rechnete mir die Zeit aus, die ich für 300 Meter Höhengewinn brauchen würde. Ich wusste, ich flog gegen die Zeit. Ich musste einen Kompromiss finden, zwischen Steigen und Vorankommen. Also weiter zum nächsten Platz, Belingries hinter dem Aufbahnkreuz. Würde ich das schaffen?

Ich war nicht sicher, zumal mich der Gegenwind immer rascher nach unten drückte. Ich erkannte die Stadt Crailsheim und beschloss, dass diese mir doch ihre Wärme abgeben könnte. Und tatsächlich fand ich Abrisskanten und immer wieder Bärte, die mich staunen ließen. Durch warme Luft, die nur kurz meine Flügel zum wackeln brachte flog ich einfach hindurch, weiter, weiter, vorne musste es besser werden. Oder gar nicht. Ich flog gegen die Zeit. Doch zu meinem großen Erstaunen fand ich immer wieder einen Aufwind, obwohl ich mich oft schon so tief befand, dass ich mich ernsthaft nach Landefeldern umsah.

Es war jetzt 18: 30 und ich hatte nicht mehr viel Zeit. Gegen 19 Uhr würde die Thermik endgültig zu Ende sein. Zudem sah ich im grellen Gegenlicht kaum, wohin ich eigentlich flog. Meine kleinen Lüftsprünge brachten mich aber weiter, jedes Steigen wurde von mir durch Hochziehen der Flugzeugnase beantwortet. Ich ließ das Variometer ein paar Sekunden lang jauchzen, dann drückte ich nach, nahm Fahrt auf und setzte meinen Kurs fort. Plötzlich war Heubach erreichbar und ich wurde euphorisch. Ich begann wie wild zu singen, es war unglaublich! Jetzt würde ich es immerhin bis an den Fuß des Hornberges schaffen. Zwar musste ich hart arbeiten, aber ich war inzwischen so zuversichtlich und flog zudem extrem genau, tastete mich von Aufwind zu Aufwind voran.

Und dann keimte in mir der Gedanke auf, dass ich es vielleicht doch bis auf den Hornberg schaffen könnte. Mein ganzer Körper wurde von Glückshormonen durchflutet. Nie zuvor hatte ich eine derartig euphorische Empfindung verspürt. Aber noch befand ich mich 200 Meter unter dem Gleitpfad, dazu hatte ich Gegenwind. Ich fand einen letzten Aufwind, der zu meiner großen Freude stetig zwei Meter Steigen brachte. Jetzt nicht nachlassen, sagte ich mir. Ich zählte die Höhenmeter mit. Jetzt hatte ich den Gleitpfad erreicht, jetzt war ich im Plus. Erst 20 Meter, dann 60, dann 200. Immer noch ging es ruhig nach oben. Ich genoss die Wärme im Cockpit, das Licht der im Westen untergehenden Sonne. Von Heubach wollte ich nun nichts mehr hören. Bei 400 Meter über dem Gleitpfad hörte ich auf zu kreisen, nahm Kurs auf das Hornberger Plateau und raste los. Ich fühlte mich unglaublich stolz. Dies war mein bisher weitester Flug und ich würde es zurück schaffen! Ich dachte an meine Frau, die am Boden auf mich warte, stellte den Funk wieder laut und meldete mich an der Position zur Landung.