Ich schlendere gedankenverloren um den Flugplatz herum. Die Wolken scheinen gerade einmal in wenigen Metern über dem Boden über das Gelände zu huschen und in der Tat: hier ist die Basis für heute, hier befindet sich die Wolkenuntergrenze. Federleicht schweben die Wolkenfetzen über das Hochplateau, auf dem sich der Flugplatz Hornberg befindet. Der Wind hat sich gelegt, aber sie treiben immer noch schnell genug, um eine aufregende Kulisse für mein Auge zu bieten. Zwischen den Bäumen und vor den Büschen stauen sich Wolken. Aus einiger Entfernung sieht es so aus, als würden die Unterkünfte und die Hangars brennen, als schösse Rauch in die Luft. Aber es sind nur die Wolken, die sich von oben herabsenken, die feucht und schwer ihren unfreiwilligen Kurs durch die Nacht fortsetzen.
Dieser Sommer ist wechselhaft, das Wetter ärgert meine Fliegerseele. Noch vor ein paar Tagen waren wir von gewaltigen Gewittern umgeben. Der Schäfer, der seine Schafe immer in Flugplatznähe weidet, hatte meine Frau und mich eingeladen. Durch ein sprachliches Missverständnis war ich zu dieser Einladung gelangt: Der Schäfer fuhr mit seinem Auto am Tag vorher an uns vorbei. Wir umwanderten wie immer abends den Flugplatz. Er sagte etwas von „Zäunen“ und „helfen“ und ich verstand darin eine dringende Bitte, ihm dabei zu helfen, die Zäune seiner Schafweide einzusammeln. Am Horizont stand auch an diesem Tag ein Gewitter und so willigte ich, ohne weiter zu überlegen, ein. Wer um Hilfe bitte, so dachte ich mir, dem muss man helfen, egal, was man selbst gerade vor hat.
Der Schäfer fuhr davon und ich eilte ihm zu Fuß den Berg hoch hinterher. Ich war schon total erschöpft, als ich bei der Weide ankam, aber es sollte noch schlimmer kommen. Der Schäfer rollte die Zäune zusammen. Seine Schafe weideten auf einem halsbrecherisch steilen Abhang, einer der naturgeschützen Wachholderheiden dieser Gegend. Meine Hilfe geriet zum Balanceakt. Ich rutschte halb den Hang hinunter, halb fiel ich, buckelte immer zwei der zusammengelegten Zäune und schleppte mich dann wieder die steile Heide noch oben. Dort angekommen, rollte ich die Zäune zusammen, fachgerecht, so wie es mir der Schäfer vorher gezeigt hatte. Dann verstaute ich die Bündel im Auto des Schäfers. Diese Prozedur wiederholte ich einige Male. Bald konnte ich vor Muskelkrämpfen den Berg nicht mehr hoch laufen und musste einen Umweg nehmen, um die Steigung zu vermeiden. Von Schäferidylle war hier rein gar nichts zu spüren. Ich war schweißgebadet als mich der Schäfer, zufrieden mit meiner Arbeit entließ und zum Abschied meinte, dass seine Frage eigentlich nur ein Scherz gewesen sei. Er hatte einfach nicht damit gerechnet, dass ich ihm, derart plump auf der Straße angesprochen, helfen würde. Dennoch machte mir die Arbeit großen Spaß. Auch deshalb, weil ich einmal einen völlig unerwartenden Perspektivenwechsel vornehmen konnte.
Der Schäfer ermöglichte mir, das, was ich hier sonst tat, mit ganz anderen Augen zu sehen. Während wir Zäune einsammelten, schleppten und rollten, starteten immer wieder Schleppzüge vom Segelflugplatz. Die Weide befand sich unmittelbar in Verlängerung der Startbahn, jeder Flieger musste nach dem Start links an diesem Hang vorbei fliegen. Es war kein Tag für Streckenflüge, aber dafür wurde bei der Flugschule ausdauernd, Start um Start, geschult.
Während ich meine Zäune den steilen Berg hoch schleppte, sah ich den startenden Fliegern zu, und fühlte mich in meine Anfangszeit als Flieger zurückversetzt. Die Maschinen wurden am Start fertiggemacht, das Seil, das den Segelflieger mit der Schleppmaschine verband, wurde eingeklinkt, die Flügel waagerecht gehalten, der Startleiter funkte dem Schlepppiloten die Freigabe und dann setzte sich als Folge der Bewegung des Gashebels im Motorflugzeug der gesamte Schleppzug träge in Bewegung, nahm Fahrt auf und kam dann, schrittweise, der Segelflieger zuerst, dann die Schleppmaschine, in die Luft. Nur wenige Sekunden nach dem Abheben flogen sie dicht an uns vorbei und ich musste jedes Mal den Kopf heben und ihnen einen Weile nachsehen.
Dieses Nachsehen beinhaltete meine gesamte Sehnsucht, die Sehnsucht, die jeder Flieger kennt. Obwohl die Startvorgänge sich fast bis ins Detail gleichen, obwohl ich lieber selbst in meinem Flieger saß, obwohl an diesen Schulstarts nichts wirklich Besonderes oder Aufsehenserregendes war, musste ich den beiden durch ein Seil verbundenen Fliegern doch jedes Mal hinterher blicken. Sie stiegen gemeinsam in den Himmel, meist in einer weiten Linkskurve, dann klinkte in einer für das Übungsprogramm ausreichenden Höhe das Segelflugzeug aus, die Schleppmaschine tauchte links nach unten weg, sank so rasch sie konnte, warf dann das Seil neben der Startstelle ab und landete nach einer Steilkurve, bereit zum nächsten Start. Daran war, wenn man es ein paar Mal gesehen hatte, nichts Ungewöhnliches. Und trotzdem hefteten sich meine Augen immer wieder an die startenden Flieger, immer wieder blickte ich auf, verfolgte ihre gemeinsame Spur am Himmel, wartete darauf, das der Moment des Ausklinkens kam und war neugierig darauf, was danach geschah.
Ich erinnerte mich an meine ersten Starts, an die Fliegerschule, in der ich in die Regeln des Fliegens eingeweiht wurde, an meinen ersten Alleinstart. Aber dieses Nachblicken war mehr als nur diese billige Nostalgie. Es war die geronnene Geste der Sehnsucht nach dem Fliegen selbst. Der ewige Versuch, mit dem Mythos in Berührung zu kommen. Allein das Nachblicken reichte aus, um in einen anderen Bewusstseinszustand zu gelangen. Und wahrscheinlich gibt es einen tieferen Grund dafür, warum alle Flieger dieser Welt gerne Flugzeugen hinterher blicken. Und die, die Flugzeugen hinterher blicken, ohne selbst Flieger zu sein, wissen nur noch nicht, dass sie Teil dieses Mythos sind, Teil der Sehnsucht, den Himmel zu seiner zweiten Heimat zu machen – wie das Wolf Hirth einmal auszudrücken versuchte.
Ich vernachlässigte meine Arbeit beim Schäfer nicht, aber ich konnte doch nicht anders, als immer wieder die Kreise zu zählen, die der Segelflieger über mir in die Luft schrieb, niemand hätte sich über mich beklagen können, aber ich musste doch immer wieder nachsehen, ob der Flieger stieg oder sank. Und damit war diese Situation symptomatisch für mein ganzes Leben als Segelflieger. Natürlich tat ich, was in meiner Macht stand, um meine Arbeit richtig zu machen, natürlich wollte ich mich in meinem Beruf bewähren und die Anerkennung der anderen erhalten. Aber ich konnte einfach nicht anders, als bei allem, was ich tat, ans Fliegen zu denken, mich nach dem nächsten Flug zu sehnen oder mir zurückliegende Flüge in Erinnerung zu rufen. Niemand würde das auffallen (mit Ausnahme meiner Frau), aber dennoch verwandelte mich jeder Blick durch ein Fenster nach draußen, jedes bisschen Himmel, das ich an den Orten, an denen ich mich in meinem beruflichen Alltag befand, erblicken konnte, jede Wolke, die sich auf meiner Netzhaut abbildete, wieder in den sehnsüchtigen kleinen Jungen, der sich einst war, als ich das erste Mal einem Flieger hinterher sah, ohne dabei sagen zu können, was ich wusste, die einfache Tatsache, das auch ich fliegen wollte.
An diese Dinge konnte ich denken, während ich die Zäune schleppte und ich war dankbar für die Gelegenheit. So flog ich auch an diesem Tag, den ich am Boden verbrachte. Ich flog in Gedanken, wie so oft, an der Stelle der anderen. Doch ich sollte dem Schäfer noch mehr Einsichten verdanken, die mich mit mir und meiner Fliegerseele konfrontierten. Aber man sucht sich die Möglichkeiten nicht immer selbst aus, sie bieten sich im Leben, man greift zu, oder man verpasst die Chance für immer.
Am folgenden Tag lud uns der Schäfer, wieder im Vorbeifahren, zu einem Bier in seinen Schafstall, der sich am anderen Ende des Flugplatzgeländes befand, ein. Ich hatte diesen Stall schon bei so vielen Überflügen und Landungen gesehen, ohne zu wissen, was sich darin befand. Nun machten sich meine Frau und ich auf den Weg, den Schäfer dort zu besuchen. Ein kleiner Kiesweg führte uns dort hin, gesäumt von Wiesen, auf den sommerhohes Gras stand und in denen die Grillen ihr Orchester anstimmten.
Der Schäfer saß an einem kleinen Klapptisch, der vor der komplett geöffneten Westseite der Scheune stand. Beim Näherkommen wurde die Scheue, die aus der Ferne noch klein und niedlich ausgesehen hatte, immer größer und als wir vor dem offenen Hallentor standen, konnten wir über deren Volumen nur staunen. Der Schäfer hatte schon Stühle für uns aufgebaut, bot uns Bier, Lamm-Burger mit Senf und das „Du“ an, eine Kombination aus zünftiger Brotzeit und zwischenmenschlicher Nähe.
Wir redeten uns warm und um uns begann die Nacht. Die Tage wurden jetzt, Ende Juli, schon erkennbar kürzer. Bald saßen wir nur noch im Licht einer einzigen Kerze, die im Westwind flackerte und ab und zu erlosch, so dass irgendjemand sie wieder mit einem Streichholz entzünden musste.
Der Schäfer, der seinen Hut so gut wie nie abnahm, stellte uns ein paar halbherzige Fragen nach unserem Beruf, unserem Wohnort und den üblichen Dingen. Ansonsten erzählte er über sich, seine Schafe und die Schwierigkeiten seines Berufes. Willig, neugierig und fasziniert hörten wir ihm gerne zu. Es war eine fremde Welt, in die wir mit seiner Hilfe eintauchen konnten. Eine Welt, die wir nur aus Klischees kannten, von denen uns die Erzählung des Schäfers jedoch vollständig befreite.
Ich hatte schon die letzte Hoffnung abgegeben, außer meinem aktiven Zuhören einen erkennbaren Beitrag zur Gestaltung des Abends leisten zu können, als der Schäfer sich plötzlich an mich wandte. Er habe eine Frage, eine Frage, die ihn dringend interessiere, die er sich immer wieder frage, die ihn umtreibe und auf die er keine Antwort wisse. Und da ich nun mal Flieger sei, könne ich diese Frage vielleicht beantworten. Ich schaute ihn an, sein Gesicht war nie länger als einen Sekundenbruchteil zusammenhängend erkennbar. Das flackernde Kerzenlicht ließ ihn einmal als einen bärtigen weisen Mann erscheinen, der mit sonorer Stimme Weisheiten einer halb untergegangenen Welt verkündet, mal als einen zotteligen Teufel, der seine Fratze verzog. Ich fragte ihn, was er denn wissen wolle, was mit dem Fliegen, oder genauer, mit dem Segelfliegen zusammenhängt.
Er beobachte die Segelflieger schon so lange, fing er an. Und er frage sich, ob man denn unendlich hoch in den Himmel steigen könne, oder ob es da etwas gibt, was das Steigen begrenze. Plötzlich waren er, der Schäfer, und ich, der Segelflieger uns ganz nahe. Schon sein ganzes Leben lang lebt der Schäfer mit dem Wetter, beobachtet die Wolken und wagt auf der Basis althergebrachter Bauernregeln Prognosen, die für ihn und seine Schafe über Freund oder Leid entscheiden. Er weiß so viel mehr als ich über das Wetter, doch an diesem Punkt hatte er einen blinden Fleck. Ich erklärte ihm, alles über Thermik, was ich wusste. Erzählte, dass die Sonne die Luft niemals direkt erwärmte, sondern zuerst den Erdboden und dann, indirekt, die Luft. Malte mit meinen beiden Händen aus, wie die derart erwärmte Luft in Blasen vom Erdboden ausgehend aufstieg, höher und immer höher. Während ich so meine Hände in den dunklen Nachthimmel streckte, folgten ihnen die Blicke. Aber eben nicht unendlich, fuhr ich mit meiner Erklärung fort, sondern nur solange, bis sich die Luft abgekühlt hatte und genauso warm oder kalt war, wie die Umgebungsluft. An diesem Punkt, so schloss ich meine Erklärung, kondensiere die aufsteigende Luft, was man als Laie und vor allem als Segelflieger daran erkennen könne, dass ich eine Wolke bildet.
Mit dieser Erklärung war der Schäfer sichtlich zufrieden. Er lehnte ich zurück, sein Gesicht verschwand aus dem Lichtkegel der Kerze und er nahm wieder seinen Erzählfaden auf und berichtete aus seinem Leben als Schäfer, seinem Ärger mit der Bürokratie, dem Verfall der Preise und der Werte und vielen Dingen mehr, Themen, die um seinen Berufsstand schwirrten, wie Fliegen um einen Misthaufen, hartnäckig und ärgerlich, und sich einfach nicht vertreiben ließen.
Ich war müde und hörte nur mit einem Ohr zu. Und damit hatte ich Gelegenheit, halb zuhörend, halb abwesend, mich an meinen letzten Flug zu erinnern. Er war dramatisch und aufregend zugleich. Kein normaler Flug in normalem Segelflugwetter, bei dem einfach Kilometer um Kilometer abgespult wird. Sondern ein Flug für das Auge, eine ästhetische Luftwanderung und ein nervenzereissendes Überraschungspaket gleichermaßen.
Der Flug begann mit langsamen Vortasten bei noch mäßiger Thermik. Ich flog nach Osten, bis Ansbach, ein inzwischen bekanntes Terrain. Vor mir wurden die Wolken immer dichter und dichter. Mein Plan, Nürnberg zu umfliegen wurde immer unwahrscheinlicher. Das Wetter war labil, überall war mit plötzlich auftretenden Überentwicklungen zu rechnen. Ich zauderte innerlich, obwohl ich längst wusste, das mein ursprünglicher Plan nicht mehr realistisch war. Als mir dann aus dunklen, fast schwarzen Wolken nacheinander drei andere Flieger entgegenkamen, die tief unter mir ins Helle flüchteten, da ließ ich den letzten Widerstand fallen und drehte um. Dabei merkte ich, das mein Kompass nicht funktionierte, er klemmte und zeigte stur einen Südkurs, den ich niemals flog. Wieder eine kleine Panne, doch auch hiervon wollte ich mich nicht aufhalten lassen.
Ich wendete und hielt Kurs auf den Odenwald, noch weit im Westen. Mein Plan war damit hinfällig aber immerhin flog ich noch. Wäre ich stur weiter geradeaus geflogen, so wie es mein Plan von mir verlangte, wäre ich mit ziemlicher Sicherheit auf dem Acker gelandet. So flog ich immerhin noch, und gar nicht einmal schlecht. Unter einer Wolkenstraße raste ich nach Westen und war bald in einer Gegend, die ich noch nicht kannte. Nun brauchte ich ein neues Ziel. Ich studierte die Karte, so gut das mit einer Faltkarte in einem engen Segelflugzeugcockpit während des Fluges eben ging und entschied, bis nach Heidelberg und dann zurück zum Hornberg zu fliegen. Schon hatte ich den Neckar in Sicht, der sich tief in das Gelände eingrub. Nördlich davon begann der Odenwald. Die Topographie faszinierte mich, doch ich hatte nur wenig Zeit und Muße, mich darin zu vertiefen. Es gab einfach zu viel zu tun. Noch waren 30 km bis Heidelberg zu fliegen, ich konnte die Stadt schon im Dunst erkennen, vor allem aber sah ich das flache Rheintal, dass sich dahinter wie die Verheißung einer anderen Welt erstreckte. Genau über dem Heidelberger Schloss wendete ich und gedachte einen Moment lang Max Weber, dem großen Soziologen, dessen Wirken für immer mit Heidelberg verbunden war. Aber hier oben sollte ich kein Soziologe sein, der sich an den Gründervater seiner Wissenschaftsdisziplin erinnert. Meine Aufgabe bestand schlicht darin, umzukehren und den Weg zum Hornberg zu finden. Rechtzeitig zu finden. Ich hatte in meinem Fliegerleben noch nie einen derart schnellen Wetterwechsel erlebt, selbst in Australien ließen sich die Gewitter mehr Zeit. Während ich gerade noch den wunderschön von der Sonne beschienenen Odenwald bewunderte und versuchte, mir für den nächsten Flug ein paar markante Wegmarken einzuprägen, hatte ich im Norden ein gewaltiges Gewitter zusammengebraut, dass nach mir griff. Jedenfalls fühlte es sich so an.
Das Gewitter bildete einen riesenhaften Schirm, der sich zusehends über mich wölbte. Vor mir zogen sich die hellen Wolken zu einem dunklen Himmelvorhang zusammen. Das Wolkenfresko, das noch vor wenigen Minuten strahlend leuchtete und an dessen Verheißung ich mich erfreut hatte, war nun in dunklen Grautönen übertüncht, so als wäre ein himmlisches Verbot für alles Freudige, Schöne, Kraftvolle, Saubere und Strahlende erlassen worden. Und aus dem Grau wurde zusehends die Farbe Schwarz, die Farbe der ewigen Verdammnis. Nur noch vom Südwesten her leuchte die Sonne unter diesen Schirm und riet zu einer Fluchtrichtung. Doch ich musste in die andere Richtung. Was hätte es mir gebracht, jetzt in die falsche Richtung zu fliegen? Stattdessen wagte ich mich unter die Wolken, die wie ein flächig aufgerollter Tunnel am Himmel wirkten.
Es begann zu regnen und meine Hoffnung, heute noch auf meinen Heimatflugplatz zu landen, schwand. Ich maßregelte mich für meine Schwäche und meinen mangelnden Willen und begann klarer zu kalkulieren, anstatt mich von der umgebenden Tristesse nicht nur physisch sondern auch psychisch herabziehen zu lassen. Ich hatte noch ausreichend Höhe und konnte eine Weile durch leichten Regen fliegen. Eine Weile, das ist ein relativer Begriff bei dieser Art der Fliegerei. 400 Meter Höhe waren in 400 Sekunden verbraucht. Fünf, sechs oder sieben Minuten würde ich so noch fliegen können. Schon begannen meine Augen den Erdboden nach geeigneten Landefeldern abzusuchen. Ein Flugplatz war nicht in der Nähe, so dass ich mich auf eine Landung auf einer Wiese oder einem Acker einzustellen hatte.
Während ich mich so innerlich auf eine Außenlandung vorbereite, merkte ich, dass ich stieg. Mitten unter dieser fast nächtlichen Schwärze, mitten im Regen. Ich stieg im Geradeausflug und ich stieg selbst dann noch, als ich es wagte, einen vorsichtigen Kreis einzuleiten, dann den zweiten und dritten flog. So ging das eine Weile. Bald war ich, sanft aber stetig steigend, dort oben angekommen, wo die Wolke begann, die hier und heute nur aus einer amorphen Masse von Dunkelheit bestand und die umso bedrohlicher wirkte, je näher man kam. Aber ich hatte Höhe gewonnen und damit konnte ich weiter fliegen, in ein Gebiet, das weniger dunkel und bedrohlich war, zur nächsten Wolke. Man spricht nicht umsonst von Höhengewinn, in der Tat, diesen wenigen hundert Meter, die mir mein Höhenmesser jetzt mehr anzeigte, als noch vorhin, war wie die Ausschüttung eines Lottogewinns. Nun konnte ich mir den Luxus leisten, die nächste Wolke, die genau in Kursrichtung stand, anzufliegen.
Und damit hatte mich mein erstes Abenteuer, den Durchflug des Schauers, bestanden. Meine Zuversicht, die ich schon verloren geglaubt hatte, kam, wie jemand, der beinahe ertrunken wäre, wieder an die Oberfläche, ich fühlte mich schlagartig besser und kräftiger.
Dieser Zustand hielt jedoch nicht lange an. Noch hatte ich gut 70 Kilometer zu fliegen. Beim Kreisen unter der nächsten Wolke entdeckte ich, dass die schwarze Wolkenwand definitiv zu einem Gewitter gehörte. Und dieses Gewitter bildete nun einen Schirm aus, der sich bedrohlich über mich wölbte. Der Schirm und damit das Gewitter kamen immer näher.
Von diesem Moment an war ich auf der Flucht. Immer wenn ich beim Kreisen zurückblickte, konnte ich erkennen, wie sich das Gewitter in meine Richtung verschob. Und inzwischen schauerte es an mehreren Stellen kräftig. Kein Vergleich zu den wenigen Regentropfen, die ich vorhin abbekommen hatte, diese Schauer würden mich nach unten spülen, gerade so, als würde man an Insekt oder eine Spinne in den Ausguss spülen. Ich stieg unter den spärlichen Wolken, die mir auf meinem Weg zur Verfügung standen mehr schlecht als recht. Da ich kaum Höhe machte, konnte ich kaum vorfliegen. Da ich mich kaum vom Fleck bewegen konnte, kam das Gewitter immer näher. Ich musste entweder höher steigen um weiter vorfliegen zu können. Das aber würde Zeit verbrauchen, Zeit, in der mich das Gewitter gewiss einholen würde. Oder ich musste es versuchen, in niedriger Höhe weiterzufliegen, um erst einmal den Abstand zwischen dem Gewitter und mir zu vergrößern. Und dabei darauf hoffen, dass ich dabei noch irgendwo einen Aufwind finden würde, der mir wieder einen Höhengewinn versprach. Ein Blick nach hinten, ich hatte keine Wahl, so niedrig wie ich war, flog ich los.
Ich flog und flog und nichts rührte sich, die Luft war ruhig, wie eine gesperrte Autobahn. Ich wagte nicht, mich umzudrehen und nach hinten zu sehen. Noch ein paar Hundert Sekunden, dann war ich am Boden. Meine Neugierde wurde immer größer. Ich wollte wissen, ob ich es schaffte, dem Gewitter davon zu fliegen. Ein Kreis nur, dann würde ich wissen, ob sich der Abstand vergrößert hatte oder nicht.
Ich drehte und ich sah die wunderbarste Naturerscheinung, die mir je über den Weg gelaufen war. Eine Linie aus Licht zog sich von West nach Ost über den Boden. Wie mit dem Lineal gezogen trennte diese scharfe Linie den Bereich des Gewitters vom Rest der Landschaft. Ich ärgerte mich, keinen Fotoapparat griffbereit zu haben. Das Gewitter warf einen Schatten auf den Boden, einen Schatten, der von seinem Schirm gebildete wurde, der sich in vielen Kilometern Höhe, in eisiger Kälte gebildet hatte. Unter dem Schirm war es Nacht. Lokale Schauer gingen nieder, die mir wegen ihrer Intensität Angst machten. Vor dieser Linie war die Welt noch in Ordnung, der Sommer hell und freudig, kein Regen, kein Schatten, gerade so, als gäbe es nie etwas anderes. Ich war wenige Kilometer von dieser Trennlinie aus Licht entfernt. Noch war ich vor ihr.
Ich musste unbedingt im Hellen bleiben, wenn ich überhaupt eine Chance haben wollte, nach Hause zu kehren. Ich kreiste dort, wo sich mir ein Aufwind anbot, jetzt war keine Zeit mehr, wählerisch zu sein. Immer kamen ein paar Meter heraus. Meter, die ich auf meiner Flucht vor dem Gewitter sofort wieder in Strecke umsetzte, den nächsten Aufwind suchend, den nächsten Höhengewinn verbuchend und so fort in einer Reihe, ohne groß nachzudenken, denn ich wollte nur fort, fort von diesem Ungetüm, dass nach mir griff, das die Macht hatte, mich zu zerstören. Und irgendwann, nach vielen tastenden Versuchen, bemerkte ich, dass sich der Anstand zwischen dem Gewitter und mir vergrößert hatte. Ich entspannte meinen Körper, denn ich hatte gar nicht bemerkt, wie sehr ich mich verkrampft hatte.
Doch die eine Gewissheit bedeutete nunmehr nur eine neue Ungewissheit. Ich war mir nun sicher, dass mich das Gewitter nicht mehr erreichen würde, doch ob die Höhe, die ich nun hatte, für meinen Endanflug reichen würde, war mehr als ungewiss. Aber ich war beflügelt. Ich glaubte an mich. Ich war bis hierher gekommen, nun würde ich auch den Rest schaffen. Schlingernd flog ich in der Luftmasse umher, suchte nach meinem letzten Aufwind des Tages. Und wie so oft fand ich ihn dann dort, wo ich ihn nie vermutet hätte, unverhofft, doch wer will wohl in einer derartigen Situation undankbar sein und die Realität am Maßstab irgendwelcher Theorien prüfen?
Nach endlosen Kreisen mit äußerster Konzentration, Kreisen, von denen mir jeder in kaum messbaren Maßstäben Höhe schenkten, die aber in der Summe dann doch den Unterschied machten, fiel mein Blick auf den Höhenmesser. Und dann war ich mir sicher: Ich würde es schaffen. Ich ging in den Geradeausflug über und flog, so ruhig es ging, auf das Fluggelände zu. Dort kam ich gerade noch mit genug Höhe an, um in einem Direktanflug auf der Piste auszusetzen.