6. Juli 2010

Zugewinn an Selbstvertrauen

Der Asphalt vor dem Flugzeughangar ist um diese Zeit noch nicht so angenehm warm, wie sonst am Abend. Es ist noch früh am Morgen, gerade erst geht die Sonne über den Hügeln der Ostseite der Landepiste auf. Das Gras, das am Abend zuvor im Vollmondlicht gemäht wurde, verströmt den unverwechselbaren Duft von Sommer, der sich seit meiner Kindheit in mein inneres Universum eingeschrieben hat. Ich setze mich auf eine Bank vor dem Hangar, meine Frau lehnt ihren Kopf liebevoll an meine Schulter. Ich war schon früh aufgewacht und musste immer wieder an den großen Flug des Vortages denken. Wie konnte ich meiner Frau ein solches Erlebnis nahebringen? Was war von den Empfindungen, die ich in einer so ganz anderen Welt gesammelt hatte, überhaupt vermittelbar? Ich erinnerte mich an den Flug des vorherigen Tages.

Irgendwie hatte ich an diesem Tag gespürt, dass ich etwas Neues wagen würde. Der Wetterbericht sagte großflächig gute Thermik voraus und ich zögerte nicht, meinen Flieger nach dem Frühstück sofort startklar zu machen. Wir schoben ihn gemeinsam an den Start, so dass ich jederzeit bereit war. Nachdem sich die ersten Wolken gebildet hatten, begann der Himmel zu brodeln. Es ging fast schneller, als man sehen konnte. Hier ein Wolke, dort ein par Fetzen, die sich schnell zu einem Haufen zusammenschlossen und schnell riesige Himmelsballen bildeten. Ballen, aus denen dann die nächste Wolke rasant emporwuchs.

Ungeduld stieg in mir auf, mir war klar, dass ich mittlerweile schon zu lange gewartet und Zeit vergeudet hatte. Ich war keiner von denen, die mit einem Messer zwischen den Zähnen flogen und abends weinten, wenn sie zwei Kilometer weniger geflogen waren, wie ihre Kameraden, aber ich war leistungsorientiert. Ich wollte weit kommen, hauptsächlich deshalb, um nicht immer dieselbe Landschaft unter den Flügeln zu haben. Ich brauchte Abwechslung, wollte neue Berge, Flüsse, Städte und Gegenden erkunden.

Denn mit dem Fliegen war es, wie mit vielen anderen Dingen im Leben auch. Nur wenn die richtige Portion Herausforderung mit dem verbunden war, was man tut, ist es der Mühe wert. Weder wollte ich mich überfordern, noch unterfordert sein.

Es hat lange gedauert, bis ich diese wichtige Lektion gelernt hatte: Nur wenn die richtige Entwicklung mit dem Fliegen verbunden war, war das Ganze sinnvoll. Nach einem langen Tag in der Luft, auf dem gemeinsamen Weg zum Abendessen fragte mich eines Tages ein Segelflieger, worin mein Ziel beim Fliegen bestehen würde. Ich war von dieser Frage wie gelähmt, hatte ich doch bis dahin angenommen, das Fliegen nicht weiter begründungsnotwendig sei. Ich dachte immer, dass das Segelfliegen an sich schon der Grund sei, dass es sich sozusagen aus sich selbst heraus erklärte. Doch das war falsch. Wie mir in dieser Sekunde plötzlich klar wurde, gibt es viele Gründe, warum Menschen fliegen, vor allem aber solche, die ihnen selbst nicht bewusst sind. Warum war ausgerechnet ich Segelflieger geworden? Was trieb mich immer weiter und weiter? Warum konnte ich, trotz vieler Erschwernisse und Ärgernisse nicht darauf verzichten? Und wenn ich es doch einmal darauf verzichtete, einer Frau zuliebe etwa (früher), warum litt ich dann und nahm letztlich lieber in Kauf, die Beziehung zu beenden, als das Fliegen aufzugeben?

Mir war einfach nicht klar, warum ich es wirklich tat. Und mir war ebenso wenig klar, welche Herausforderung ich wirklich suchte. Mit anderen Worten: Die Entwicklung, zu der das Segelfliegen für mich gehörte, war mir selbst ein Rätsel. Ein anderer Flieger erzählte mir beim abendlichen Grillen davon, wie er sich von der Meinung der anderen (scheinbar) freimachte und seinen eigenen Weg ging, wie er versuchte, durch das Fliegen für sich selbst zu wachsen. Doch worin bestand dieses Wachstum, über einige diffuse und meist nachgeplapperte Worte hinaus nun wirklich?

Nun war es Zeit. Ich startete als Zweiter. Schon in niedriger Schlepphöhe gab es kräftige Schläge unter den Flügeln, das Motorflugzeug, dass mich in den Himmel zog, wurde immer wieder von den unsichtbaren Kräften, die hier zugange waren, so schnell hochgehoben, dass ich Mühe hatte, ihm durch einen Zug am Steuerknüppel zu folgen. Mir war klar, dass ich schon eine halbe Stunde früher hätte starten sollen. Nachdem ich ausgeklinkt und nach rechts weggedreht hatte, wurde dieser Eindruck nur noch bestätigt. Schon die erste Wolke zog mich rasch immer höher und höher. Mühelos erreichte ich die Basis, dachte noch kurz an meine Frau, die mir vielleicht vom Boden aus mit ihren Blicken gefolgt war und flog dann in nordwestlicher Richtung davon. Ich wollte keine Zeit verlieren und nahm so direkt es ging Kurs auf das Nördlinger Ries, dass ich wegen eines Tiefflugmanövers der Luftwaffe nordwestlich umrunden musste. Mit hoher Geschwindigkeit hüpfte ich von Wolke zu Wolke, jede empfing mich dort, wo ich es erwartete mit guten bis sehr gutem Steigen, so dass ich mich schon bald links neben dem markanten Hesselberg wiederfand, der sich gut von der sonst eintönigen Landschaft abhob und mir als Wegzeichen diente.

Es war noch recht dunstig, die Sicht schlechter als sonst, so das ich meine nächsten Wegpunkte, den Altmühlsee und die Brombachtalsperre mehr erahnen als sehen konnte. Mein Plan war es, südlich um Nürnberg herumzufliegen. Doch dieser Tag und diese Gegend schienen verhext zu sein. Im Gebiet um die Seen hatte ich schon immer meine Schwierigkeiten. Heute tastete ich mich bis nach Roth vor und musste dann damit kämpfen, meine Wahrnehmung der äußeren Welt mit meiner inneren Vorstellung in Übereinstimmung zu bringen. Der Himmel wurde immer dunkler und die Wolken zogen sich zu einem bedrohlich wirkenden Brei zusammen. Hier war kein Weiterkommen möglich. Noch während ich darüber nachdachte, was ich nun tun sollte, schoss ein anderer Segelflieger an mir vorbei. Es kam mir vor wie in Bote, der mir sagen sollte, „Dreh um, hier geht es nicht weiter. Siehst du es nicht, auch ich drehe“. Egal wer oder was mir hier eine Botschaft sandte, sie war inzwischen klar. Ich könnte auf meinem Plan bestehen und versuchen, unter dieser Abschirmung hindurch bis nach Regensburg fliegen. Wahrscheinlich würde ich mich dann in weniger als einer viertel Stunde auf einem Acker wiederfinden und über meine Dummheit fluchen. Ich könnte aber auch einfach umdrehen und in Kauf nehmen, dass ich 50 Kilometer Strecke umsonst geflogen war, die mir heute Abend in meiner Gesamtbilanz fehlen würden. Dafür hätte ich noch den ganzen Tag vor mir.

„Wer A sagt muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, das A falsch war.“ (B. Brecht). Also drehte ich und schon Minuten später befand ich mich trotz dieser guten Entscheidung in Schwierigkeiten. Mein E-Vario spielte verrückt und zeigte mir traumhafte Steigwerte, obwohl ich mich rasend schnell im Sinkflug geradeaus befand. Mir blieb nichts anderes übrig, als es immer wieder ein- und auszuschalten. Als das alles nichts half, schaltete ich es einfach ab.

Plötzlich war es ungewohnt still im Flieger. Das also bedeutete Segelfliegen. Der nervöse Klangteppich, der sich sonst den ganzen Flugtag lang über meine Ohren legte, war weg, ich hörte nur noch mein eigenes Fahrgeräusch, meinen Atem und einen Luftzug, der durch das geöffnete Seitenfenster kam, ein leises Zischen, dass mich wie immer beruhigte, denn es signalisierte mir, dass ich mich angemessen schnell in dieser fremden Umgebung bewegte.

Während ich mich mit den technischen Problemen beschäftigen musste, fehlte mir die Aufmerksamkeit für die Thermik. Ich hatte, da ich gegen den Wind fliegen musste, rasch an Höhe verloren. So viel, dass ich jetzt nur noch ausreichend Höhe hatte, um eine dicke Wolke voraus anzufliegen. Sie war für den Moment meine einzige und letzte Chance. Direkt über der Stadt Ansbach stieg ich in einem mächtigen Aufwindkanal unter der Wolke ein, der mich rasch wieder in eine komfortable Höhe und entspannte Stimmung brachte. Ich sah den militärischen Landeplatz, auf dem in mehreren Reihen Kampfhubschrauber standen. Ich drehte auf Nordkurs. Jedenfalls so gut es ging, denn mein Kompass war auch defekt. Das war mir schon beim letzten Flug aufgefallen, aber ich hatte bisher keine Zeit gehabt, ihn auszutauschen. Jetzt musste ich genau navigieren, damit ich nicht in das Flugbeschränkungsgebiet von Nürnberg einflog. Aber zum Glück kannte ich die Strecke grob von einem Flug der letzten Woche und peilte eine Wolkenlinie über dem Steigerwald an. Ich beschloss zum Flugplatz Burg Feuerstein zu fliegen. Bamberg war also mein nächstes Etappenziel. Unter der Wolkenstraße raste ich so schnell es ging nach Norden, hielt immer ein wenig gegen den Westwind, damit ich nicht aus Versehen in das Flugbeschränkungsgebiet getrieben wurde. Dabei stellte sich schnell ein rauschartiges Vergnügen ein. Zwar wusste ich, dass eine solche tragende Linie nicht ewig halten würde, aber allein die Vorstellung, ich könnte ewig so weiterfliegen, hob meine Stimmung in Richtung ungehemmter Euphorie. Ich begann zu singen und meinen Flieger zu loben. Rechts tauchte inzwischen in der weniger dunstigen Luft die Stadt Bamberg auf, gut erkennbar an der Regnitz und dem parallelen Kanal. Aber wo war der Feuerstein? Vor über 20 Jahren hatte ich dort das Fliegen gelernt, alle meine Ersparnisse zusammengekratzt und nach zwei Wochen flog ich das erste Mal alleine. Damals war meine Welt die Platzrunde. Der nächste Flugplatz, die Friesener Warte, nur ein paar Kilometer entfernt, gehörte damals noch zu einer anderen Welt. Heute war ich so hoch, dass ich Schwierigkeiten hatte, die beiden Plätze zu finden.

Doch die Erinnerung kam wieder. Obwohl es so lange her war und obwohl ich die Welt damals mit anderen Augen sah, erinnerte ich mich an die groben Eckpunkte. Da war der Turm, dort der schroffe Abhang, das Plateau darüber war der Flugplatz, der wie ein L aussah. Irgendwo im Osten kreiste ein weiterer Flieger. Der Himmel müsste voll sein mit Segelfliegern, aber es war ein Dienstag und kein Wochenende. Mit gut 2000 Metern Basis flog ich von meinen Wendepunkt ab, nicht ohne vorher noch drei völlig unnötige große Kreise gedreht zu haben, weil ich mir diesen Blick und diesen für mich historischen Moment einprägen wollte. Aber irgendwann riss ich mich los, der Tag war noch lang. Zum Glück war ich schon um 11 Uhr gestartet und obwohl das eine halbe Stunde zu spät war, hatte ich noch viel Zeit vor mir. Ich wollte als nächstes zur Wasserkuppe und von dort zurück zum Hornberg. Da aber mein Kompass kaputt war, flog ich statt nach Nordwesten einen zu starken Nordkurs. Es ging schnell voran, die Bärte zogen gut, so dass ich mir keine Sorgen machte. War das schon die Rhön? Ich studierte die Karte und schaltete mein GPS an, dass ich nur mit einem Akku betrieben konnte und das daher meistens ausgeschaltet blieb. Ich befand mich südlich von Coburg. Nun hatte ich ja, was ich suchte: Neuland.

Noch nie war ich vorher hier gewesen, weder mit dem Segelflieger noch mit dem Motorsegler. In meinem Kopf gab es dazu keine noch so groben geografischen Informationen, die ich hätte abrufen können. Ich wusste nur, dass hier vor knapp 20 Jahren die ADIZ verlief, die Grenze zur damaligen DDR. Langsam dämmerte es mir. Dann musste die langgezogene Bergkette vor mir, ja, das musste der Thüringer Wald sein. Ich fluchte und freute mich zugleich. Ich fluchte, weil ich einen Abstecher gemacht hatte, der eigentlich gar nicht im Programm vorgesehen war. Und ich freute mich, weil ich wusste, dass dies ein gigantischer Flug werden würde. Unter einer Bedingung allerdings: Ich musste es noch zurück schaffen. Und das konnte ich mir in diesem Moment beim besten Willen nicht vorstellen. Nun aber nutzte ich erst einmal die gute Thermik am Thüringer Wald aus und beschloss, mir später Sorgen zu machen.

Zwei, drei Wolken und beherztes Vorfliegen und ich war einen großen Sprung weiter. Doch wo war ich? Meine Karte endete schon lange. Sie war so ungünstig gefaltet, dass ich sie erst im Flug umknicken musste. Das war nicht einfach. Ich hantierte mit der großen Karte, die ich aus vier Teilkarten zusammengeklebt hatte. Ich hatte keine andere Chance, als eine Minute lang blind zu fliegen. Ich konnte die Karte nur umklappen, wenn ich mir selbst die Sicht versperrte. Und was sah ich dann? Ich befand mich zu meinem eigenen Erstaunen in Suhl. Jetzt wurde mir wirklich mulmig. Genau in diesem Moment flog ich auch aus dem Aufwind und sank immer tiefer. Ich stellte mir vor, wie ungläubig alle am Hornberg reagieren würden, wenn ich hier auf einem Acker landen müsste, anrief und meine Position durchgab. Ich beschäftigte mich so sehr mit den vorweggenommenen Lästereien, dass ich mich kaum noch auf die Thermiksuche konzentrieren konnte. Endlich ermahnte mich eine vernünftige Stimme in mir. Ich riss mich zusammen, kreiste so sauber, wie es nur ging und arbeitete mich aus tiefer Höhe wieder nach oben. Fürs Erste war ich sicher, aber ich zweifelte nun daran, den Flug erfolgreich beenden zu können. Ich musste besser bei der Sache bleiben und mich nicht mit Dingen beschäftigen, die hier oben keine Rolle spielen. Wenn ich flog, musste ich fliegen. Sonst nichts. Um die Reaktionen der anderen konnte ich mich nach der Landung kümmern. Das war einfacher gesagt, als getan. Nun aber endlich zur Wasserkuppe. Ich war schon viel weiter nördlich als ich wollte und für heute war das definitiv genug. Ich wollte mein Blatt nicht überreizen.

Leider wurde nun das Wetter zusehends schlechter. Die Aufwinde wurden schwächer, die Basis sank ab. Dennoch hielt ich Kurs „West“ – so gut das ohne Kompass ging – auf die Wasserkuppe zu. Es war ein lang gehegter Traum von mir gewesen, den Berg der Flieger vom Hornberg aus zu erreichen. Nun war ich kurz davor. Aber welchen Preis würde ich dafür zahlen müssen? Hatte ich noch eine reelle Chance, zurückzufliegen? Immer wieder mahnte ich mich innerlich und manchmal auch mit lauter Stimme, einen Schritt nach dem anderen zu machen. Was sonst machte ich dieser Welt, in der ich mich befand, Sinn?

Von der Wasserkuppe aus drehte ich auf Heimkurs. Nun reichte es. Es war 16 Uhr und mir erschien es kaum noch möglich, den Weg zurück zu schaffen. Immer wieder rechnete ich im Kopf die Strecke und die verbleibende Zeit durch. Ich war schlecht auf einen solch großen Flug vorbereitet, eigentlich gar nicht. Von der Wasserkuppe aus kannte ich zumindest den ungefähren Weg zurück. Irgendwann erschienen im Dunst die Kühltürme des Kernkraftwerkes von Schweinfurt. Diese Wegmarke machte mir Mut, zumindest kannte ich diese Gegend aus meiner Würzburger Fliegerzeit. Aber das Wetter wurde nicht besser. Die Wolken trockneten ab und ich verlor das letzte bisschen Mut, dass ich noch in den Knochen hatte. Ich aß mein letztes Brot auf, um nicht unterzuckert zu sein, trank ein paar Schlucke Wasser und sah dem Elend ins Auge. Ich musste gegen den Wind, der stramm aus West kam, kreuzen. Die Wolken verschwanden. Ich war noch 150 Kilometer weit weg von meinem Heimatflugplatz, mein Kompass funktionierte nicht, die Gegensonne blendete. Ich wusste nicht so genau wo ich war, auch wenn ich da vorne irgendwo die mir vertrauten Kühltürme sah. Aber vor allem: Ich war tief. Sehr tief.

Querab von Bad Kissingen schaltete ich das GPS an. Was nützte es mir, die Batterien zu schonen, wenn ich bald landen musste. Zum Glück zeigte es mir an, dass ich mich in nur 5 Kilometern Nähe eines Flugplatzes befand. Ich sah nach rechts, tatsächlich, da war er. Eine schöne lange Piste. Ich entspannte mich, streckte meine Beine, entkrampfte meine Finger. Mit dieser Sicherheit in Reichweite konnte ich munter drauf los probieren. Ich flog also einige der Schleier an, denn Wolken gab es inzwischen keine mehr. Zu meinem großen Erstaunen hob mich die unsichtbare Thermik ganz gewaltig nach oben. Es ging also noch. Die Thermik war so stark, dass ich mir ausrechnete, dass ich mit etwas Glück noch von zwei Stunden Thermikdauer ausgehen könnte. Also munter weiter, dem Süden entgegen.

Das Licht war gleißend hell und blendete mich. Ich nahm grob Maß und flog ab, den Kühltürmen entgegen. Dort über der Stadt Schweinfurt kam ich tief an. Aber immerhin wusste ich nun, wie das Spiel heute laufen würde. Ein stetiges Vortasten gegen den Wind, das Ausnutzen unsichtbarer Kräfte am Himmel. Es war, also würde man die Luft anhalten, um über eine Mauer zu balancieren, von der man zu beiden Seiten herunterfallen kann. Ich versuchte so sauber wie möglich zu fliegen, um keine Schiebewiderstände zu erzeugen. An den Dampfwolken, die aus den Kühltürmen drangen, sah ich die Windrichtung am Boden und konnte mir die Stärke in meiner Höhe erahnen. Direkt vor den Kühltürmen drehte ich in einen Bart ein und gewann wieder ein paar hundert Meter Höhe. Mit jedem Strich, den der Zeiger auf dem Höhenmesser nach oben überschritt, gewann ich wieder ein wenig an Zuversicht. Aber es war noch so weit! Und schon so spät. Ich rechnete mir meine Chancen aus und kam auf kein besseres Verhältnis aus 70 zu 30. Gegen mich.

Bei der Volkacher Mainschleife, die ich auch noch von meinem Flug letzte Woche kannte, kreiste ich über den Weinbergen nach oben. Dann an Würzburg vorbei. Mein GPS zeigte mir, dass ich es bis dorthin schaffen würde. Es war 17 Uhr und ich verspürte den Drang, einfach aufzugeben. Ich kannte Würzburg. Dort in der Nähe lebten meine Eltern, sie würden mich abholen und ich könnte am nächsten Tag den Anhänger für das Flugzeug holen. Wie praktisch. Wie einfach. Wie unmöglich. Ich machte mich von dieser Suggestion los und versuchte mich endlich wieder auf meine Aufgabe zu konzentrieren. Und die bestand darin, so nahe wie möglich an den Hornberg zu gelangen. Schaffen würde ich es nie, dessen war ich mir inzwischen sicher.

Ab Kitzingen, wo ich noch einmal einen guten Aufwind im Blauen fand half mir die Autobahn, die A 7 als Leitlinie. Ich wusste, dass bei Südkurs irgendwann Rothenburg auftauchen müsste. Und da war auch schon die Stadt. Wenn ich dort landete, wäre es keine Schande mehr. Ich machte den Flugplatz zwischen Stadt und Autobahn aus, sah einen Motorflieger starten und merkte mir die Start- und Landerichtung. Dennoch flog ich weiter nach Süden, ich konnte ja jederzeit umkehren. Direkt über der historischen Altstadt bekam ich Anschluss an einen warmen Luftstrom, der nach oben stieg. Und ich mit ihm. Jetzt nicht nachlassen, nicht unsauber fliegen. Steil bleiben. Die Fahrt wegnehmen, die Trimmung optimieren. Die Aufwinde waren längst nicht mehr stark, aber es reichte aus. Ich rechnete mir die Zeit aus, die ich für 300 Meter Höhengewinn brauchen würde. Ich wusste, ich flog gegen die Zeit. Ich musste einen Kompromiss finden, zwischen Steigen und Vorankommen. Also weiter zum nächsten Platz, Belingries hinter dem Aufbahnkreuz. Würde ich das schaffen?

Ich war nicht sicher, zumal mich der Gegenwind immer rascher nach unten drückte. Ich erkannte die Stadt Crailsheim und beschloss, dass diese mir doch ihre Wärme abgeben könnte. Und tatsächlich fand ich Abrisskanten und immer wieder Bärte, die mich staunen ließen. Durch warme Luft, die nur kurz meine Flügel zum wackeln brachte flog ich einfach hindurch, weiter, weiter, vorne musste es besser werden. Oder gar nicht. Ich flog gegen die Zeit. Doch zu meinem großen Erstaunen fand ich immer wieder einen Aufwind, obwohl ich mich oft schon so tief befand, dass ich mich ernsthaft nach Landefeldern umsah.

Es war jetzt 18: 30 und ich hatte nicht mehr viel Zeit. Gegen 19 Uhr würde die Thermik endgültig zu Ende sein. Zudem sah ich im grellen Gegenlicht kaum, wohin ich eigentlich flog. Meine kleinen Lüftsprünge brachten mich aber weiter, jedes Steigen wurde von mir durch Hochziehen der Flugzeugnase beantwortet. Ich ließ das Variometer ein paar Sekunden lang jauchzen, dann drückte ich nach, nahm Fahrt auf und setzte meinen Kurs fort. Plötzlich war Heubach erreichbar und ich wurde euphorisch. Ich begann wie wild zu singen, es war unglaublich! Jetzt würde ich es immerhin bis an den Fuß des Hornberges schaffen. Zwar musste ich hart arbeiten, aber ich war inzwischen so zuversichtlich und flog zudem extrem genau, tastete mich von Aufwind zu Aufwind voran.

Und dann keimte in mir der Gedanke auf, dass ich es vielleicht doch bis auf den Hornberg schaffen könnte. Mein ganzer Körper wurde von Glückshormonen durchflutet. Nie zuvor hatte ich eine derartig euphorische Empfindung verspürt. Aber noch befand ich mich 200 Meter unter dem Gleitpfad, dazu hatte ich Gegenwind. Ich fand einen letzten Aufwind, der zu meiner großen Freude stetig zwei Meter Steigen brachte. Jetzt nicht nachlassen, sagte ich mir. Ich zählte die Höhenmeter mit. Jetzt hatte ich den Gleitpfad erreicht, jetzt war ich im Plus. Erst 20 Meter, dann 60, dann 200. Immer noch ging es ruhig nach oben. Ich genoss die Wärme im Cockpit, das Licht der im Westen untergehenden Sonne. Von Heubach wollte ich nun nichts mehr hören. Bei 400 Meter über dem Gleitpfad hörte ich auf zu kreisen, nahm Kurs auf das Hornberger Plateau und raste los. Ich fühlte mich unglaublich stolz. Dies war mein bisher weitester Flug und ich würde es zurück schaffen! Ich dachte an meine Frau, die am Boden auf mich warte, stellte den Funk wieder laut und meldete mich an der Position zur Landung.

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