11. August 2012

Zeitreise


Als ich meinen Hänger öffne, sehe ich einen Jungen auf mich zukommen. Er stand an der noch verschlossenen Halle der Segelflieger und wartete darauf, dass der Fluglehrer und andere Schüler kommen. Wir begrüßten uns und tauschten unsere Namen aus. Dann fragte er pflichtbewusst, ob er mir helfen könne. Ich musste ihn enttäuschen, aber ich plauderte ein wenig mit ihm, um nicht zu brüsk zu wirken. 3o Jahre zogen an meinem inneren Auge vorbei. 30 Jahre einer Entwicklung, über die ich – als Zweifler geboren – in regelmäßigen Abständen rätsele.
Da war der Junge, der Flugzeugmodelle baute und flog, weil die Eltern ihm den Eintritt in einen Segelflugverein verboten hatten. Der begeisterte Mitflieger, dort, wo sich eine Möglichkeit bot – die manchmal JAHRE auf sich warten ließ. Der Befreiungsschlag in einer Flugschule, das ganze Gesparte wird für einen Freiflug auf den Kopf gehauen. Und dann die Jahre der Odyssee durch Vereine an verschiedenen Orten. Es gab Zeiten, da stand ich wie der Junge mir gegenüber auf Flugplätzen und hätte alles dafür gegeben eines dieser Sehnsuchtsobjekte anfassen zu dürfen. Nur um mich der Illusion hinzugeben, dabei zu sein, einer von denen, die die Helden meiner Kindheit und Jugend waren.
Dieser Impuls geht wohl nie verloren. Sonst stünden auf Luftfahrtmessen nicht Menschen um Flugzeuge, die sie bestaunen, in die sie sich setzen, von denen sie träumen. Immerhin das – Träumen – muss erlaubt sein und schützt gegen den Unrat in der Welt.
Mittlerweile ist das Fliegen säkularisiert, seinem Mythos entraubt, der in der Kindheit noch so leicht gepflegt werden konnte, der sich beim heimlichen Lesen von Büchern, nachts unter der Bettdecke, fast von ganz alleine aufdrängte. In der Frage des Jungen, „soll ich helfen?“ klang auch dieses Seltsame „darf ich dabeisein?“ mit , dass ich nur zu gut kannte, weil es für viele Jahre meines Lebens die Sehnsuchtsformel gewesen war.
Auch wenn ich gegenwärtig nicht wusste, wohin mich die weitere Entwicklung fliegerisch bringen würde, war doch wenigstens klar, dass heute ein guter Flugtag auf mich warten würde, also baute ich (allein) auf, solange es noch nicht zu heiß war. Mit meiner neuen Schleppvorrichtung zog ich den Apis 2 an das Ende der Piste. Vor mir war ein Nimbus 4 gestartet, eines dieser Riesendinger, die mit unverhältnismäßig mehr Aufwand doch letztlich nur das Gleiche suchten. Der Motor lief zu meiner großen Freude einwandfrei, so dass ich gut Höhe machte. Im Steigflug erwischte ich einen Aufwind, der mir ein Gesamtsteigen von 4m/s brachte, so dass ich schon bald den Motor abstellen konnte. Beim Einfahren des Motors sah ich Richtung Platz, dort wurde gerade die Winde aufgebaut.
Für heute konnte das Spiel beginnen. Ich flog in dem Bewusstsein, dass dies möglicherweise der letzte Flug für mich in dieser Saison sein würde. Schon bald würde ich in Wien sein und dort meine Gastprofessur antreten. Damit war die Saison für mich dieses Jahr um 6 Wochen verkürzt. Aber der Flug bescherte mir einen angenehmen Abschied.
Die Basis war nicht mehr so traumhaft hoch, wie bei einigen der letzten Flüge, aber der Himmel war klar durch Wolkenbänder konturiert, denen ich blind vertraute und folgte. Der Weg war durch die Windrichtung vorgezeichnet – Osten. Gegen den Wind hin und dann mit Rückenwind zurück war heute die Devise. Ich bewegte mich zwischen den Luftriffen wie der kleine Fisch Nemo auf der Suche nach ein bisschen Glück. Das gute Wetter hatten auch andere bemerkt, mein Flarm hörte sich an, wie ein Alleinunterhalter auf einer goldenen Hochzeit, dauernd machte es Töne, die zwar nicht gut klangen, aber immerhin einen Nutzen hatten. Ich sah zweimal einen Taurus, eine Menge K-8en, einen Califen und eine SB 5. Und natürlich das Übliche an Kunststoffsegelfliegern.
Ein wenig im Zick-Zack ging es über die Alb, wobei ich versuchte, den letzten Artikel, den ich über sauberes Kurbeln gelesen hatte, in die Tat umzusetzen. Hatte ich 45 Grad Schräglage? Kreiste ich in beide Richtungen gleichgut? Nein, nein, also übte ich weiter. Die Landschaft kam mir inzwischen merkwürdig vertraut vor, ein wenig fast empfand ich eine schmerzliche Agonie, weil mich immer das Neue, nie aber das Bekannte reizte. Mein Leben bestand immer im Wandel, das tut es immer, gleichwohl achten wir meistens auf den Wiedererkennungseffekt und viel zu selten auf den Kontrast. Vielleicht war auch das der Grund, warum ich manchmal des ewigen Kreisens überdrüssig wurde und mich nach neuen Landstrichen unter den Flügen sehnte. Mein Gehirn braucht wohl mehr Abwechslung, als ich im bieten kann.
Ich  konnte die Entwicklung der Wolken nicht so richtig einschätzen, aber irgendwie war mir mulmig. Noch standen die Wolken brav aufgebauscht in einer Reihe, aber ich traute dem Frieden nicht. Noch eine Wolken nach Osten nahm ich mir vor und drehte dann über Günzburg wieder in Westrichtung. Diesmal ging alles mit Rückwind viel einfacher. Die Windkomponente macht sich beim APIS 2 einfach bemerkbar – das ist auch der einzige Unterschied zu anderen Segelflugzeugen.
Ich flog an der nördlichen Albkante entlang, die Teck und den Flughafen Stuttgart in Sicht und genoss das wunderbare Panorama dieser Landschaft. Mal ging es besser, mal schlechter, aber nie hatte ich wirklich Mühe, mich wieder hoch zu arbeiten. Wohl auch, weil sich immer mehr Flieger und immer weniger Wolken konzentrierten und so jeden verfügbaren Bart markierten. Denn mein Gefühl war richtig gewesen. Ab halb Fünf bauten die Wolken rapide ab und bald der Himmel bis auf ein paar Fetzen blau. Ich schaffte es aber mühelos, hier und da noch einen Aufwind zu finden und meldete mich dann kurz vor Sechs zufrieden mit dem Tag zur Landung in Donaueschingen, hinter mir eine Zweimot der Swissair im direkten Anflug.
Noch als mein APIS 2 fix und fertig im Hänger verstaut war, herrschte Windenbetrieb. Ich schaute hinüber und dachte an meine Zeit als Flugschüler zurück. Manchmal hatte ich zwölf Stunden auf dem Fluggelände verbrachte, für einen dreiminütigen Start. Ich wünschte dem Jungen, der mir am Morgen hatte helfen wollen, mehr Glück und ein zeitgemäßeres Ausbildungskonzept. Bei einem aber war ich mir sicher: Das sehnsuchtsvolle Streben wird sich nie ändern, nur in immer wieder neuer, verkleideter Form auftreten.