20. September 2010

Von Kirchturm zu Kirchtum

Ich sitze im Aufenthaltsraum der Segelflugschule Hornberg auf der Ostalb, nicht weit von Stuttgart entfernt, und blicke durch eine breite Scheibenfront auf die Piloten, die ihre Maschinen vor dem Start überprüfen. Es ist Anfang September, draußen bläst ein frischer Wind und die Sonne erhellt einen grenzenlos weiten blauen Morgenhimmel. Der Spätsommer beschert uns noch eine Hochdruckwetterlage und wir wollen dies in vollen Zügen genießen.

Im Aufenthaltsraum hängen zwei große Landkarten nebeneinander. Anlass, einmal wieder über die geheime, aber doch jedem Flieger bekannte Verbindung zwischen Karten und Fliegerträumen nachzudenken. Die eine Karte, eine Sichtflugkarte, die das Gebiet der Bundesrepublik darstellt, nutzte ich am Abend zuvor, um meinen Flug nachzuvollziehen. Auf der Fläche der Karte nahm mein Flugweg ein bescheiden kleines Dreieck ein. Ich konnte die topografischen Besonderheiten der Landschaft, meine inneren Bilder und die grafische Abbildung in Deckung bringen. Oft mache ich dies nach dem Fliegen, erst dann finde ich den notwendigen Abstand und innere Ruhe. Die zweite Karte ist eine Weltkarte im Maßstab von 1 zu 20 Millionen. Sie zeigt, aus irgendeiner, nicht allzu fernen Zeit, die weltweiten Flugverbindungen der Lufthansa. Versuche ich meinen Flugweg in diese Karte zu projizieren, so verschwindet der Flug und ich gleich mit. Gerade war ich noch davon überzeugt, dass mein Flug ansehnlich und mein Erlebnis intensiv waren. Wie schnell sich doch die eigene Überheblichkeit relativieren kann. Der Raum, der bei einem solchen Flug durchflogen wird, schrumpft zum Ort, wenn der Maßstab der Betrachtung verändert wird. Ein Blick auf die zweite Karte genügt.

Das ist es, was ich so vermisse, was ich oft kritisiere, die Einseitigkeit, die oft mit einer Portion Dogmatismus daherkommt. Es gibt so viele Experten, die ihren Raum, ihre Routen kennen, die schon dutzende Male, je hunderte Male ein Dreieck über Schwarzwald, Alb und anderen Mittelgebirgen geflogen sind. Die Welt aber kennen sie nicht, sondern, im globalen Maßstab, nur ihren eigenen Ort. Umgekehrt aber, was vermisse ich an de Globtetrottern? Sie waren überall auf der Welt, haben alle erdenklichen Sehenswürdigkeiten bereist, aber sie sind nirgendwo heimisch, nichts kennen sie wirklich gut. Es ist immer ein Blindflug in großer Höhe. Sie haben nie gelernt, das Ganze in den Teilen zu suchen, einen Ort als den Ort zu sehen, an dem man lebt, wo man fliegt.

Es sollte möglich sein, beide Perspektiven zu vereinen. Als Kind wollte ich die Welt von oben sehen. Ich stellte mir vor, dass ich mit einem Flugzeug (natürlich mit meinem Flugzeug!“) in Linien über die Erdoberfläche flöge und so Streifen um Streifen des Globus erkunden würde. Ich war eine Satellit, der Umkreisung für Umkreisung immer neue Gebiete scannte oder fotografierte. Diese Annahme ist natürlich naiv. Sinnlos ist sie nicht. Geblieben ist der Wunsch, die Erde als Ganzes zu verstehen.

Ich hatte mich vor einiger Zeit darüber gewundert, dass es Segelflieger gibt, die sich langweilen und zugeben, dass das Fliegen ihnen keinen Reiz mehr bietet. Ich hatte mich auch darüber gewundert, dass sie es dann nicht aufgeben. Dagegen stehen meine letzten vier Flüge, die ich alle vom Hornberg aus startete. Sie waren zwar nicht ideal im Sinne toller Wolken und starker Thermik. Dafür boten sie ungeahnt Reizvolles. Sie sind für mich die Grundlage eines neuen mentalen Modells des Segelfliegens – dem Biologger-Modell.

Der letzte Flug war erst gestern und ist mir daher noch in frischer Erinnerung. Aber auch die anderen Erlebnisse werden so schnell nicht verblassen. Das Besondere an diesem Flug war die Tatsache, dass ich mich das erste Mal tatsächlich wie ein Vogel fühlte. Ich flog, in niedriger Höhe, von Kirchturm zu Kirchturm und kam doch zu meinem Startplatz zurück. Es war, als würde Hesse an einem Spätsommertag in der Luft wandern. Als ich startete, war es bereits abzusehen, dass der Wetterbericht recht haben würde. Die wenigen Wolken würden über kurz oder lang abtrocknen. Mutig flog ich dennoch in relativ bescheidener Höhe ab, denn das eine hatte ich von meinen ehemaligen Mentoren gelernt: Jeder Flug sollte ein Streckenflug sein, bei jedem Wetter. Die Zeit der Platzfliegerei war endgültig vorbei.

Da der Wind aus Nordosten kam, flog ich, so gut es die Wolken zuließen, in diese Richtung. Weit kam ich nicht. Der Gegenwind drückte mich schnell nach unten, so dass ich nach wenigen Minuten schon wieder hoffsehnsuchtsvoll nach der nächsten Wolke schaute, diese, so direkt wie möglich anflog und dann bis an deren Unterseite hochkreiste. Für mich war dies kein Tag der schnellen Vorflüge. Aus einem Flug im Schwarzwald, der mich dann in die ersten Albtäler geführt hatte, wusste ich noch, das mein Flieger bei allzu forschem Vorfliegen gegen den Wind sehr schnell an Höhe verlor. Da war einfach nichts zu machen, das waren die Gesetze der Physik. Also blieb mir nur vorsichtiges Vorfliegen, immer die Sinkrate der Maschine im Blick, die Suche nach den Zentrum des Aufwindes, das Höherkurbeln bis an die Basis und das entschlossene Weiterfliegen.

Mein Masterplan bestand darin, mich ein gutes Stück gegen den Wind vorzukämpfen um mich dann mit Rückenwind zurückschieben zu lassen wie ein Ballon. Das erschien mir unter den gegebenen meteorologischen Verhältnissen die beste Alternative. Immer seltener wurden nun die Wolken und ich kam unendlich langsam voran. Zum Glück war dies kein Wettbewerb, zum Glück wollte ich den Flug „nur“ genießen, zum Glück zählte ich keine Punkte, sondern Blicke. Mir ging es nicht um eine Platzierung in einer Tabelle sondern um das Einsammeln von erinnerungswürdigen Erlebnissen. Und davon bot mir dieser Flug reichlich.

Schon sah ich in der Nähe unter mir das Kloster Nehresheim, das ich vor ein paar Wochen zusammen mit meiner Frau besucht hatte. Aus der Luft sah man erst, wie gewaltig diese Anlage war. Sie war dazu bestimmt, schon aus der Ferne wahrgenommen zu werden und den Menschen aus der Zeit des Klosters Ehrfurcht einzuflößen. Es erinnerte mich an den Roman „Das Memorial“ des portugiesischen Nobelpreisträgers José Saramago, der darin schildert, mit wie viel Entbehrung der Bau einer Kathedrale verbunden ist.

Für die meisten Segelflieger war es hingegen nur ein Wendepunkt, eine GPS-Koordinaten, die sie in die Flugdatenbankbank ihres Rechners eingeben, speichern und bei Bedarf abrufen. Ich aber freute mich über das Wiedersehen aus neuer Perspektive. Zeigte dies doch den Wesenskern des Fliegens, die Möglichkeit, sich einen neuen Blickwinkel auf bereits Bekanntes zu erarbeiten. Dies ist auch gleichzeitig das Wesen der Philosophie. Noch als ich darüber nachdachte, bemerkte ich das rapide Abtrocknen der Wolken, die immer größer werdenden blauen Löcher, die eigentlich keine Löcher waren, sondern Gebiete ohne Wolken, die aber aus unerfindlichen Gründen von allen Piloten Löcher genannt wurden. Seltsam, die Sprache der Segelflieger. Obwohl sie sich in einem dreidimensionalen Raum bewegten, mussten sie auf die zweidimensionale Projektion zurückgreifen, um dieses Himmelsphänomen zu beschreiben. Denn wie nennt man einen Raum im Raum, in dem keine Wolken sind, in dem keine Thermik herrscht? Auf die Karte projiziert ist es in der Tat ein „Loch“. Vielleicht nennt man es auch Loch, weil man mit dem Wort assoziiert, das man irgendwo hinein- oder hinunterfällt. Und dies blüht einem Segelflieger in der Tat, wenn keine Thermik mehr vorhanden ist, nur das er nicht fällt, sondern langsam zu Boden gleitet und dann auf einer Wiese oder einem Feld landet. Also dramatisiert der Begriff „Loch“ das, was vorhanden ist und das, was darin passiert, ein wenig. Am Nördlinger Ries, eines der bekannteren Löcher, mogle ich mich in immer niedrigeren Höhen vorbei nach Norden. An die Realisierung der großen Strecken, die ich beim Start so euphorisch geplant hatte, ist nun nicht mehr zu denken. Mir geht es um’s Obenbleiben und weiterkommen. Und vor allem geht es mir darum, heimkommen.

Da sind die Segelflieger dann auch ein sehr konservatives Völkchen. Der Flugplatz ist ihr Heim, man sehnt sich danach und alle anderen Orte sind damit nicht vergleichbar. Inzwischen ist es endgültig blau, am Himmel keine einzige Wolke mehr und ich muss meine Flugtaktik umstellen. Es ist schon lange her, dass ich das letzte Mal bei Blauthermik geflogen bin, seither hatte ich es immer vermieden. Zu heiß ist es meist im Cockpit, zu anstrengend dann der Flug. Nun ließ es sich nicht vermeiden und ich hatte auch noch ein wenig Zeit, die klare Luft zu genießen, die eine schöne Fernsicht zuließ. Mein Gesicht wurde von der Septembersonne angenehm gewärmt, was einschläfernd auf mich wirkte. Ein Gefühl, gegen das ich mit aller Kraft ankämpfte, denn nun galt es, erst Recht wach zu sein. Das war kein Spaßflug, kein Flug, bei dem es keine Mühe machte, unter hohen Cumuluswolken oben zu bleiben oder gar unter Wolkenstraßen hinweg zu jagen. Ich erinnerte mich an mein Lehrbuchwissen über Blauthermik und meine eigenen Erfahrungen. Gibt es keine Wolken, an denen man sich orientieren kann, so muss man sich als Segelflieger nach Bodenmerkmalen orientieren. Die Frage ist dann, wo sich Warmluftblasen bilden und wo sich diese ablösen. Lange hat man nicht Zeit, diese zu finden. Immer niedriger flog ich, schon sahen die Häuser, die Autos auf der Straße deutlich nah aus. Ich stellte mir vor, ein Hase zu sein. Wer hatte mir das beigebracht? Mein Fluglehrer? Ein Lehrbuch? Wo würde ich mich als Hase wohl fühlen, wo wäre es mir angenehm warm? Dort sollte sich warme Luft bilden. Wo würde diese Luft bei dem gegebenen Wind hintreiben und wo würde sie sich, an einer Waldkante oder an einem Hang, vom Boden loslösen und in die Höhe treiben? Dort musste ich hin und zwar schnell. Und in der Tat ging meine Rechnung auf. Dort, über einem Dorf, das durch eine Hangkante nach Süden hin begrenzt war, spürte ich einen leichten Aufwind. Der nördliche Wind hatte die Luft durch die Sonneneinstrahlung über den Häusern erwärmt, sie trieb zur bewaldeten Hangkante und erhob sich dann. Ich surfte an der Waldkante hin und her, kam immer tiefer. Schon war ich nur noch 200 Meter über dem Boden, die Häuser und die Kirche waren klar unter mir erkennbar, wie ein Anker im klaren Wasser. Ich blickte mich nach einem Feld um, das zur Landung geeignet war, es sollte eben sein, große genug, frei von Hindernissen wie Stromleitungen und möglichst in nord-südlicher Richtung verlaufen. Es gab keines, das allen diesen Kriterien entsprach, aber das ist eben die Abweichung der Praxis von der Theorie. Immerhin sah ich ein Feld, das mir geeignet erschien. Ich notierte es im Geiste als meinen Außenlandeplatz ohne mich gleich darin zu verlieben. Ich wollte noch versuchen, oben zu bleiben. Ich sagte mir, dass es auf jeden Fall Thermik geben musste, dass es alles eine Frage der Konzentration und der Geduld sei. Mein Hin- und Herfliegen brachte mir keinen Höhengewinn aber immerhin auch keinen Verlust ein. Nun hatte ich eine Idee. Wenn es mir gelänge, mich ständig ohne Höhenverlust in dieser Luftmasse zu halten, dann würde mich der Wind, der ja aus Norden kam, immer weiter gegen Süden versetzen, mich also meinem Ziel entgegen treiben. Ich glaubte nicht ernsthaft daran, auf dem Hornberg landen zu können, der ja noch 30 Kilometer entfernt war und zudem auf einem Hochplateau, 200 Meter über der Ebene, lag. Aber ich wollte meinen Außenlandepunkt so weit als möglich nach Süden hin versetzen, um die Rückholtour mit dem Anhänger so angenehm wie möglich zu gestalten.

In immer neuen Kreisen versuchte ich das minimale Steigen, das ich vorfand, zu optimieren. Nach 20 Minuten hatte ich einen Höhengewinn von nur 100 Meter vorzuweisen, worauf ich aber recht stolz war. Diese hundert Meter veränderten meine Perspektive und insgesamt meine Aussichten. Sie machten meinen Plan möglich. Ich ließ mich über den Hügel treiben, der das eine Dorf vom nächsten trennte, hatte genug Höhe um mit Rückenwind einen dazwischen liegenden Wald zu überfliegen und begann mein Spiel von vorne. Warme Luft über dem Dorf, umkreisen des Kirchturms, geduldiges Suche nach einer Aufwindquelle, das Versetzen mit dem Wind. Es gelang mir nicht, einen stabilen Aufwind zu finden. Bald ging es nach oben, nur um dann wieder rasch zu fallen. Das alles in einem Kreis. Also kreiste ich steiler, versuchte das Zentrum zu fassen und darin zu bleiben. Ich verbesserte mein Steigen ein wenig, konnte mich insgesamt in dem schmalen Höhenband halten und bemerkte bald, wie die Kirche, die mein Fixpunkt war, ein wenig kleiner wurde. So ging es weiter. Der Wind trieb mich, ich hielt meine Höhe in vielleicht 300 Metern über Grund. Das war nicht viel, aber es gab auch keinen Grund zum Verzweifeln.

So einen Flug hatte ich noch nie gemacht! Ich überflog die wunderschöne Landschaft in Platzrundenhöhe. Immer nahm ich mir ein neues Außenlandfeld in Richtung Süden in den Blick, dann huschte ich über den nächsten Hang, den nächsten Wald zum nächsten Dorf. Ich wanderte in der Luft von Kirchturm zu Kirchturm. Ich ließ mich treiben. Auch wenn es aufgrund der notwendigen Konzentration zu anstrengend war, um genüsslich zu sein, stellte sich ein innerliches Hochgefühl ein, ich merkte wohl, das hier etwas Besonderes im Gange war, dass ich es war, der das Besondere produzierte, dass meine Taktik aufging. Schon sah ich den Hornberg und die drei markanten Gipfel in seiner Umgebung recht nahe Aufblinken, Nun wusste ich, dass ich zumindest recht nahe herankommen könnte. Vielleicht würde ich doch noch einen kräftigen Aufwind finden, der mit einen Direktanflug ermöglichte? Irgendwo musste einer sein, doch wo? Das Dorf, über dem ich die letzten Minuten gekreist war, blieb nach Norden zurück, die Kirche, die vorhin noch so bedrohlich nahe war, in einer Perspektive, aus der man als Segelflieger keine Kirche je sehen möchte, war nun klein, sie verschwand ebenfalls aus meinem Blickfeld. Mit der Geschwindigkeit eines Fahrrades trieb mich der Wind meinem Wunschziel entgegen. Jetzt schien es plötzlich machbar. Dieser Aufwind war ein wenig stärker, ich konnte ihn mit meinen steilen Kreisen fassen, ich konnte das Steigen verbessern.

Jetzt unternahm ich einen letzten Anlauf. Zwar hatte ich die notwendige Höhe für einen Direktanflug noch nicht erreicht, mir fehlten mindestens 300 Meter, doch ich flog direkt Richtung Hornberg. Meine Fluggeschwindigkeit addierte sich zur Windgeschwindigkeit, ich wollte nah an mein Ziel kommen. Unterhalb vom Hornberg liegt in der Ebene, 200 Meter tiefer, der Flugplatz Heubach vor dem gleichnamigen Ort. Bis dorthin war mein Flug nun gesichert. Es wäre keine Schande, dort zu landen. Ich flog so, dass ich mir diese Option offen hielt, Heubach zu meiner linken, den Hornberg rechts vor mir. Aber nun ging es nur noch nach unten, also steuerte ich links, sah schon nach der Landerichtung in Heubach. Über dem Ort dann, vor der Hangkante, fand ich dann aber noch in letzter Minute einen Aufwind, diesmal einen verlässlichen, es war ironischerweise der Beste des Tages. Das Variometer piepste vergnügt, die Kreise zog ich rund, das Steigen war konstant, meine Rückkehr zum Hornberg war von diesem Moment an gesichert. Als ich eine sichere Höhe erreicht hatte, griff ich nach meinem Mobiltelefon und rief meine Frau an, um ihr mitzuteilen, dass ich es nach Hause schaffen und gleich landen würde.

15. August 2010

Den Meterologen trauen

Die Piste und die Abstellflächen vor den Hangars sind noch feucht vom Regen, der unser Abendessen akustisch untermalt hatte. Auf der Piste steht Wasser, das von der untergehenden Sonne leicht beschienen wird, so das der Boden aussieht wie ein großer Spiegel. Vom Westhang her huschen Wolkenfetzen herbei. Zwischen ihnen gibt sich hin und wieder ein Blick frei auf den morgigen Tag: Wer heute nach Westen blickt, sieht, wie das Wetter morgen aussehen könnte. Der Himmel leuchtet klar, die Sicht ist weit und ich denke an den kommenden Tag.

Vor dem Abendessen hatte ich mich über meine zusammengeklebten Sichtflugkarten gebeugt und Kurse mit farbigen Klebestreifen abgesteckt. Ich nahm den Taschenrechner zur Hand und rechnete mir die zu den Kursen gehörenden notwendigen Durchschnittsgeschwindigkeiten aus. Aber Kurse in eine Karte einzeichnen und Strecken durch Thermikstunden dividieren ist eine Sache. Fliegen eine andere. Wie das Wetter morgen aussehen wird, weiß niemand und ich habe keine Ahnung, welche Art von Strecke ich mir zurechtlegen soll. Ich weiß nur: Ich will weit fliegen, soweit wie möglich. Ich möchte meine Grenze ausloten. Ich suche eine Herausforderung, keine Langeweile. Was aber passiert, wenn ein solcher Flug gelingt? Es ist nicht leicht, danach abzuschalten. Wer nach mehr als sieben Stunden Flug ohne Motor sicher wieder an seinen Ausgangspunkt zurückkehrt, der fliegt noch lange im Kopf weiter.

So denke ich immer wieder an einzelne Stationen des letzten Fluges, der ein Superlativ für mich darstellt. Aber schlussendlich ist ein solcher Flug nicht bloß in Zahlen zu messen. Ich frage mich, wie lange sich Erlebnisse steigern lassen? Wann gibt es einen toten Punkt, an dem die Entwicklung einfach nicht mehr weiter getrieben werden kann? Jedenfalls nicht mit einem vertretbarem Aufwand.

Am Morgen versuche ich rechtzeitig startklar zu sein. Wer große Strecken fliegen möchte, muss früh in schlechter Thermik starten und abends in schlechter Thermik nach Hause fliegen. Alles dazwischen macht Spaß. Dieser Regel habe ich von den erfahrenen Streckenfliegern schon oft gehört. Schon beim Frühstück sind meine Sinne auf den Himmel justiert. Nach dem Wetterbriefing weiß ich ein wenig mehr, vor allem, dass es viel Wind von Westen geben wird. Die gute Thermik jedoch, befindet sich im Osten, im Bayerischen Wald und der Fränkischen Schweiz. Ich beschließe, meinen Plan umzusetzen, den ich mir am Abend zuvor gemacht hatte. Ich saß bei schumrigen Licht und studierte die ICAO-Sichtflugkarten von drei Regionen (Frankfurt, Stuttgart und München), die ich zusammengeklebt hatte, überlegte mir mögliche Strecken. Gänzlich unerfahren in diesen strategischen Dingen half ich mir damit, dass ich ein farbiges Klebeband auf die Karte klebte und mir so dreiecksförmige Routen in der Karte markierte. Mit Hilfe meines PDAs und einer darauf befindlichen Software errechnete ich die Entfernungen zwischen den Endpunkten dieses Dreiecks und damit die zu fliegende Gesamtstrecke. Es sollten mindestens 500 km sein. Ich wollte diese Grenze noch einmal durchbrechen. Strecken von 300 und 400 km war sich schon oft geflogen. Dazu war eine (relativ) herausfordende Aufgabe notwendig und an dieser tüftelte ich den halben Abend lang, verwarf immer wieder Dreiecksrouten, die ich aufklebte und bliebt schließlich bei einer Route, die mir unter den gegebenen Wetterbedingungen als die Sinnvollste erschien. Der Kurs führte mich südlich an Nürnberg vorbei, dorthin konnte ich früh mit Rückenwind fliegen, dann nach Norden, über die Fränkische Schweiz, denn dort sollte dann am frühen Nachmittag laut Prognose die beste Thermik sein, um dann schließlich von Bamberg aus den Heimweg nach Südwesten hin anzutreten. Es sollte noch eine größere Strecke werden, doch davon wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts.

Erst ärgerte ich mich, als ich sah, dass sich nun aufgrund meines Zögerns doch noch zwei Vereinsflieger vor mich an den Start gemogelt hatten. Doch dann war ich froh, sollten die beiden mir doch nach dem Start zeigen, wo ich mit dem ersten, zaghaften Steigen zu rechnen hatte. Die Schleppmaschine zerrte mich in bockiger Luft einmal um den Hausberg, das Kalte Feld und flog dann auf meine über Funk gegebene Anweisung hin stur nach Nordosten. „11 Uhr“, rief ich dem Schlepppiloten über Funk zu, er korrigierte den Kurs einwenig nach links. Dort stand, schon über der Ebene, die sich weit nach Norden hin erstreckte eine sympathisch wirkende Wolke unter der ich ausklinkten wollte. Beim Näherkommen sah ich dann auch die beiden anderen Flieger gemeinsam unter dieser Wolke kreisen, es sah spielend leicht aus.

Schon fast an der Basis klinkte ich aus, dankte dem Schlepper über Funk und wunderte mich dann über die niedrige Höhe unter der Wolke. Gerade mal 1300 Meter zeigte mir mein Höhermesser an und das stimmte mich nicht gerade euphorisch für den anstehenden Streckenflugtag. Andererseits hatte ich Rückwind, also machte ich mich, von Wolke zu Wolke hüpfend und immer darauf achtend, zu dieser frühen Phase des Fluges nicht zu tief zu kommen, auf nach Osten. Die Entscheidung war damit gefallen, ich vertraute den Meterologen und hoffte auf eine höhere Basis.

Es sollte noch lange dauern, bis es soweit war. Erst einmal musste ich bei diesen niedrigen Basishöhen aufpassen, keinen Fehler zu machen. Ich bewegte mich im Höhenband zwischen 1100 und 1400 Metern, mehr war einfach noch nicht drin. Ein paar mal noch kreiste ich mit den beiden anderen, dann trennten sich unsere Wege. Sie flogen mehr nordwärts, ich nach Nordosten. Schon glaubte ich, dass ich mich vertan hätte, stellte mir auf meinem Navigationsgerät den nächstgelegenen Flugplatz ein und vertrieb, wie immer, die Gedanken an den sicherlich zu erwartenden Spott der anderen über eine solch frühe Außenlandung.

Flieger sind unbarmherzig, in Kritik und Besserwisserei bestens geschult, auch in Schadenfreude. Man erhält Hilfe, muss sich aber die „kameradschaftlichen“ Kommentare über sich ergehen lassen. Ich mahnte mich zur mich zu mehr Konzentration, denn schließlich war es hier meine Aufgabe, mich auf das Nach-Oben-Kommen zu konzentrieren und nicht auf vorweggenommene Reaktionen auf eine hypothetische Außenlandung. Aber so tief sitzen frühere Erfahrungen. Ich gab mir also, laut vor mich hin sprechend, Verbote und Kommandos, die mich mahnten das Richtige zu tun und das Unnötige zu unterlassen. Noch waren die Steigwerte mehr als bescheiden, aber der Rückenwind aus Westen schob mich stückweise weiter und langsam, ganz langsam stieg die Basis.

Ich hatte mich gerade um das Nördlinger Moos gemogelt, als ich in eine spürbar stiegfreudigere Luftmasse eintrat. Zudem begannen sich nun im Osten, also in meiner Flugrichtung durch den recht starken Wind Wolkenstraßen zu bilden. Noch ein, zwei Sprünge unter inzwischen deutlich höheren Wolken und ich hatte Anschluss an diese Wolkenstraße, die sich gefühlt unendlich weit erstreckte. Sie lag nicht direkt auf meiner eigentlichen Kurslinie, doch ich beschloss, die Gunst der Stunde zu nutzen. Ich würde eben ein wenig weiter im Süden, bei Regensburg herauskommen. Ich setze die Wölbklappen positiv, damit ich langsam fliegen konnte, und nahm dann das Steigen unter der Straße, so gut es ging, mit. Bald war ich an der Basis, die sich erfreulicherweise auf 1800 Metern befand und konnte das Steigen in Fahrt umsetzen. Auf der Anzeige meines Navigationsintrumentes konnte ich sehen, dass ich mich mit fast 180 km/h über Grund bewegte, der Rückenwind schob mich also mit 30 km/h nach Osten. Mir wurde ein wenig mulmig, denn ich wusste, das der Wind, der mir jetzt half, mich später, beim Rückflug, bremsen würde. Aber dann würde ich auch, so mein Plan, das beste Steigen des Tages vorfinden können. Immer weiter rauschte ich unter der Wolkenstraße dahin, ohne mir die Mühe zu machen, zu kreisen. Ich kam recht schnell voran und sah schon bald Regensburg voraus, das sollte meine erste Wende sein, denn ich wollte unbedingt in die Fränkische Schweiz fliegen, also nach Norden. An meinem Wendepunkt stieg ich noch einmal so gut es ging und drehte dann nordwärts.

Ab hier war alles Neuland für mich. Noch nie war ich so weit geflogen, ich kannte die Region nur aus der Karte. Aber das machte ich am liebsten. Neues sehen, das war für mich das Größte und Schönste am Fliegen. Das Entdecken war einer derjenigen Aspekte am Fliegen, die mich seit über 20 Jahren immer weiter antrieben. Ich hatte zwar erkannt, dass es für erfolgreiches Segelfliegen unumgänglich war, mit der Landschaft einer Region vertraut zu sein. Und bei den Strecken, die heutzutage geflogen wurden hieß das, mit ganz Süddeutschland vertraut zu sein. Aber hin und wieder in Regionen einzufliegen, die ich noch nie selbst aus der Luft gesehen hatte, war doch, neben der notwenigen Routine, die Würze, die mir das Fliegen immer wieder schmackhaft machte.

Die Basis war hier fast schon großartig und ich konnte zwischen den Wolken, nun quer zum Wind, schnell vorfliegen. Dazu wölbte ich die Klappen meines Fliegers negativ, nahm Fahrt auf und visierte das vor mir liegende Ziel, also diejenige Wolke, die mir am lohnenswert erschien und die gleichzeitig einigermaßen auf Kurs lag. Weiter und weiter, ich hatte ein Ziel und ich erkannte, dass dies wohl eines der Geheimnisse des raumgreifenden Fliegens ist. Es kommt nicht so sehr darauf an, welches Ziel man sich als Flieger gesetzt hat, sondern darauf, dass man sich eines gesetzt hat. Und dieser Gedanke, für den ich zwischen zwei Wolken kurz Zeit fand, begeisterte mich, diese Formel ließ ich mühelos auch auf alles andere anwenden.

Um mein nächstes Etappenziel, den Flugplatz Feuerstein zu erreichen, musste ich noch ein militärisches Sperrgebiet umfliegen. Ich hatte ich ausreichend Arbeitshöhe, die Basis war dankenswerter Weise auf über 2000 Meter gestiegen und ich konnte mir die beiden Knicke, erst nach Nordosten und dann nach Nordwesten mühelos erlauben. Noch 40 Kilometer bis zum Feuerstein und plötzlich wurde mir mulmig. Ich verpasste einen Bart nach dem anderen und war, bei schönsten Wolken um mich herum bald schon so tief, das es gerade noch für eine Landung auf dem Flugplatz Feuerstein gereicht hätte. Bei dem starken Gegenwind war ich mir jedoch nicht so sicher, ob ich der Anzeige meines Endanflugrechners überhaupt trauen konnte. Immer tiefer kam ich und der Frust wurde immer größer. Bald schon sah ich den Flugplatz und wusste nun zumindest, dass ich ihn erreichen würde. Eine Landung auf dem Acker blieb mir somit erspart. Ich flog stur in Richtung des Flugplatzes, um nicht noch diese Karte zu verspielen, als mich plötzlich ein gewaltiger Aufwind erfasste und stetig nach oben trug. Ich war, vorerst einmal, wieder in sicherer Höhe und konnte meinen Flug nach Westen fortsetzen.

Erneut lockte mich eine Wolkenstraße und ich beschloss, meinen Flug nach Westen zu verlängern. Es wäre zu schade um den schönen Tag und die gute Thermik gewesen. So ein Tag sollte voll ausgenutzt werden. Statt mich also von Bamberg aus direkt auf den Heimweg zu begeben, steuerte ich den Spessart an. Wieder erhielt ich nach ein paar Versuchen Anschluss an diese Wolkenstraße, die sich aufgrund des stetigen Westwindes gebildet hatte. Ich freute mich darüber, denn so konnte ich dem Gegenwind trotzen, der mich sonst in arge Bedrängnis gebracht hätte. Teilweise flog ich ganz langsam und hatte dabei das Gefühl, wie ein Ballon zu steigen, an einigen Stellen, an denen das Steigen besonders gut war, machte ich Kreise und ließ mich mit wundervollen Steigwerten und einem wild piepsenden Variometer verwöhnen nach oben an die Basis tragen.

Wie so oft war es die Technik, die mir einen Streich spiele: Die Instrumente machten mir zu schaffen, das elektronische Variometer zeigte auch dort Steigen, wo ich eindeutig sank, das mechanische Vario blieb dauernd bei irgendeinem Wert stehen. Ich musste jedes Mal meine Gurte locken und mit einem Finger auf die Glasabdeckung klopfen, damit sich der verhackte Zeiger wieder löste. Ich wünschte mir sehnlich ein Flugzeug, bei dem einfach alles stimmt, die Technik, die Instrumente, die Leistung, die Ästhetik. Aber immerhin war dieses hier meines und niemand rief mich nach einer Stunde wieder auf den Boden zurück, so wie ich das in den letzten 20 Jahren in allen Segelflugvereinen erlebt hatte. Ich ärgerte mich also über diese technischen Schwierigkeiten, die meine Aufmerksamkeit vom eigentlichen Fliegen abzogen, aber ich versuchte, nicht allzu viel Energie darauf zu verschwenden.

Teilweise konnte ich unter der Wolkenstraße herrlich schnell dahinjagen. Ich wusste, dass dies heute der Schlüssel zum Erfolg war. Der Gegenwind, in meiner Höhe immerhin 30 bis 35 km pro Stunde, hätte mich sonst immer wieder zu tief sinken lassen. Dieses mühsame Spiel kannte ich noch vom letzten Jahr. Es endete einige Male mit einer Landung auf einer Wiese.

In Kursrichtung sah ich den Spessart und den Odenwald. Links von mir, im Dunst lag der Hornberg, unsichtbar in knapp 100 Kilometern Entfernung. Ab jetzt war alles eine Rechenaufgabe. Wie weit sollte ich noch nach Westen fliegen? Wie lange hielt die Thermik noch? Und wie lange würde ich, quer zum Wind, für den Rückflug benötigen? Ging die Rechnung auf, würde ich mindestens 500 Kilometer geflogen sein (nach FAI-Regeln, nicht nach OLC). Immer genauer beobachtete ich die Wolken, um abzuschätzen, wie lange es noch Thermik geben würde. Ging ich ursprünglich von 18 Uhr aus, so hatte ich inzwischen meine Prognose auf 19 Uhr verlängert. Es war nun 17 Uhr, die Wolken waren noch in Bestform und hoben mich, wenn ich mich an der richtigen Stelle befand, immer noch mit guten 3 Metern in der Sekunde nach oben. Ich genoss diese Aufwinde sehr, vielleicht waren es die letzten starken des Sommers. Bei diesem Gedanken wurde ich wehmütig. Wie kurz doch die Flugsaison ist. Immer, wenn ich mich gerade warm geflogen hatte, war es schon August und damit war die Saison so gut wie zu Ende.

Aber nun sollte ich mich auf den heutigen Flug konzentrieren, Wehmut brachte mich dabei nicht weiter. Bis 17:30 wollte ich noch nach Westen fliegen, einerlei wo ich mich dann befand, nach Süden umschwenken und heimfliegen. Wie sich zeigen sollte, war das ein guter Entschluss. Ich flog noch eine gute Strecke an Walldürn vorbei, nahm noch ein satte Wolke als Energiespender mit und sagte mir dann laut und verbindlich vor: „Nach Hause“. Nun hatte ich noch ca. 90 Minuten für 100 Kilometer, das sollte mehr als reichen.

Ich erschrak jedoch nicht schlecht, als die Thermik dann sehr plötzlich zusammenbrach. Gerade noch hatte sie mich mit traumhaften Steigwerten in den Himmel gehoben, war jetzt ein anderes Spiel angesagt. Die Steigwerte waren nur noch halb so hoch, die Basis sank, die Wolken lösten sich zusehends rascher auf, vor allem in Flugrichtung. Sie waren nun ockerfarben, nicht mehr weiß mit kräftiger, dunkler Unterseite. Ein sicheres Zeichen dafür, dass die Energie raus war.

Aus der letzten Wolke auf Kurs kitzelte ich noch einmal 1900 Meter heraus. Jetzt blieb mir nichts anderes mehr übrig, als mit der Geschwindigkeit des besten Gleitens so weit wie möglich in Richtung Hornberg zu fliegen und darauf zu hoffen, dass ich unterwegs über einen letzten Aufwind stolperte. Meine Höhe reichte noch nicht einmal bis Heubach, meinem Ausweichflugplatz, den ich bisher erst einmal in Anspruch genommen hatte. Unter ein paar Fetzen, die vor mir in der Luft hingen kitzelte ich zumindest meine Endanflughöhe auf Heubach heraus. Aber natürlich wollte ich nach Hause. Dadurch, dass ich unter der Wolkenstraße recht weit nach Westen geflogen war, hatte ich jetzt eine leichte Rückenwindkompente, die ich glücklich ausnutze. Ich musste mich letztlich nur in der Luft halten, weder steigen noch sinken und zusehen, wie mich der Westwind in die von mir gewünschte Richtung schob.

Doch es sollte einfach nicht reichen. Fast schon hätte ich resigniert, ich flog einfach direkt auf den Hornberg zu, als ich mitten im Blauen, ein Zittern der Flügel verspürte, der linke hob sich leicht an und ohne zu überlegen steuerte ich das Flugzeug in eine Kurve in Richtung dieses Flügels. Ich stieg tatsächlich noch in irgendeiner verspäteten Luftmasse, die ich durch puren Zufall durchflogen hatte. Jetzt nur keinen Fehler machen! Ich achtete darauf, dass ich den Faden sauber in der Mitte hielt, dass die Fahrt stimmte, dass ich den Aufwind richtig zentrierte. Und dieser dankte es mir, indem er mich genauso sauber und stetig Meter für Meter hebt. Die Steigwerte waren nur in homöopatischen Dosen spürbar, Thermik aus der Apotheke. Doch es reichte, schon hatte ich den Gleitpfad auf Hornberg erreicht, doch ich wollte ein paar Meter Sicherheit wegen des Windes. Und auch deshalb, weil ich noch über die Stadt Schwäbisch Gmünd fliegen musste und ich keine Lust hatte, dort am Kirchturm hängen zu bleiben. Ich benötige mehr als zwei Sekunden um einen einzigen Meter zu steigen, dennoch kann ich nach einer, zwei, drei Minuten den Erfolg meiner Bemühungen am Höhenmesser und an der Anzeige meines Endanflugrechners ablesen. Endlich entschließe ich mich, den direkten Anflug auf das Segelfluggelände zu versuchen. Die letzten 10 Kilometer gleite ich in absolut ruhiger Luft, die Fahrt ist auf das beste Gleiten eingestellt. Als ich sicher bin, dass ich den Platz erreiche, melde ich mich im Funk und frage nach der Landerichtung. Die letzten Höhenreserven drücke ich weg und setze sie in Fahrt um. Mit 170 km/h rausche ich westlich des Platzes entlang, fahre das Fahrwerk aus, verriegle es. Am Ende des Gegenanfluges ziehe ich die Fahrt in einer steilen Kurve weg und steuere ich Piste 35 an. Ich schwebe wunderbar aus, setze weich auf, halte den Sporn in der Luft, um auf der Asphaltbahn nicht zu sehr abzubremsen und komme direkt vor dem Hangar zum Stehen. Aus dem Cockpitfenster sehe ich, wie meine Frau winkend auf mich zukommt und strecke zufrieden mit diesem Flug die Faust zu einer Siegesgeste in die Luft.

2. August 2010

Fliegen für die Augen

Schon immer hat es mich gestört, wie falsch alle Bilder vom Fliegen wirken, die in Zeitschriften abgebildet sind. Die Fotografie wurde schon immer dafür gescholten, nur Momente festzuhalten, den Fluss des Lebens einzufrieren. Sehr selten habe ich bislang Fotos vom Segelfliegen gesehen, die trotz des medialen Nachteils das Gefühl des Fliegens einigermaßen wiedergeben, meist verwischte, unscharfe Aufnahmen, also genau das Gegenteil dessen, was man üblicherweise in Zeitschriften sieht: Flugzeuge, die starr irgendwo im Himmel hängen, wie festgenagelt. Mögen sich andere über diese Bilder freuen (jeder braucht eine Projektionsfläche für seine Sehnsüchte), mir verging bei der Betrachtung immer die Lust.

Nun hatte ich 2010 das Glück, an einem Projekt beteiligt zu sein, bei dem es sogar um Filmaufnahmen zum Thema Fliegen ging. An der Hochschule Esslingen, unter Leitung von Prof. Dr. Gärtner, wird seit einigen Jahren der Apis Jet entwickelt - ein normaler Apis 2 von Wezel Flugzeugtechnik, jedoch mit innenliegendem Jetantrieb. Zusammen mit meinen Studierenden wurde ich beauftragt, einen Dokumentationsfilm zu diesem wunderbaren Projekt zu erstellen. Leider wurde der Apis Jet während der Projektlaufzeit nicht fertig, daher konnte der eigentlich geplante Erstflug nicht stattfinden. Wir gaben uns dennoch große Mühe und erstellten einen Film, der zentrale Projektabschnitte zeigt. Damit es kein zu "trockener" Film wird und um gleichzeitig in die Idee des Jetantriebes als Heimkehrhilfe einzuführen, spielte ich ein wenig "Set Pilot" und stellte meinen Mini Nimbus zur Verfügung. Wir erstellten einen Trailer, der in den eigentlichen Film einführt und eine simulierte Außenlandung zeigt. Botschaft: Mit Jet wäre das nicht passiert!

Um genügend brauchbare und zugleich spektakuläre Flugaufnahmen zu haben, musste ich gleich zehn Starts an einem Tag machen. Die kleine Kamera wurde dabei immer an anderen Positionen montiert. Die Flüge sollten alle das gleiche Wetter, das gleiche Licht zeigen - viel zu oft hatten wir schon dilettantische Aufnahmen gesehen, bei denen einfach nichts zusammenpasste.

Am Ende erstellte wir sogar noch einen Special Cut für den Hornberg - in dieser Version fehlt die Außenlandung, dafür ist das Fluggelände mehrmals im Bild. Dieser Film gibt so einigermaßen das wieder, was für mich Segelfliegen bedeutet. Dem Hornberg hat es nicht geholfen.

25. Juli 2010

Flucht vor dem Gewitter

Ich schlendere gedankenverloren um den Flugplatz herum. Die Wolken scheinen gerade einmal in wenigen Metern über dem Boden über das Gelände zu huschen und in der Tat: hier ist die Basis für heute, hier befindet sich die Wolkenuntergrenze. Federleicht schweben die Wolkenfetzen über das Hochplateau, auf dem sich der Flugplatz Hornberg befindet. Der Wind hat sich gelegt, aber sie treiben immer noch schnell genug, um eine aufregende Kulisse für mein Auge zu bieten. Zwischen den Bäumen und vor den Büschen stauen sich Wolken. Aus einiger Entfernung sieht es so aus, als würden die Unterkünfte und die Hangars brennen, als schösse Rauch in die Luft. Aber es sind nur die Wolken, die sich von oben herabsenken, die feucht und schwer ihren unfreiwilligen Kurs durch die Nacht fortsetzen.

Dieser Sommer ist wechselhaft, das Wetter ärgert meine Fliegerseele. Noch vor ein paar Tagen waren wir von gewaltigen Gewittern umgeben. Der Schäfer, der seine Schafe immer in Flugplatznähe weidet, hatte meine Frau und mich eingeladen. Durch ein sprachliches Missverständnis war ich zu dieser Einladung gelangt: Der Schäfer fuhr mit seinem Auto am Tag vorher an uns vorbei. Wir umwanderten wie immer abends den Flugplatz. Er sagte etwas von „Zäunen“ und „helfen“ und ich verstand darin eine dringende Bitte, ihm dabei zu helfen, die Zäune seiner Schafweide einzusammeln. Am Horizont stand auch an diesem Tag ein Gewitter und so willigte ich, ohne weiter zu überlegen, ein. Wer um Hilfe bitte, so dachte ich mir, dem muss man helfen, egal, was man selbst gerade vor hat.

Der Schäfer fuhr davon und ich eilte ihm zu Fuß den Berg hoch hinterher. Ich war schon total erschöpft, als ich bei der Weide ankam, aber es sollte noch schlimmer kommen. Der Schäfer rollte die Zäune zusammen. Seine Schafe weideten auf einem halsbrecherisch steilen Abhang, einer der naturgeschützen Wachholderheiden dieser Gegend. Meine Hilfe geriet zum Balanceakt. Ich rutschte halb den Hang hinunter, halb fiel ich, buckelte immer zwei der zusammengelegten Zäune und schleppte mich dann wieder die steile Heide noch oben. Dort angekommen, rollte ich die Zäune zusammen, fachgerecht, so wie es mir der Schäfer vorher gezeigt hatte. Dann verstaute ich die Bündel im Auto des Schäfers. Diese Prozedur wiederholte ich einige Male. Bald konnte ich vor Muskelkrämpfen den Berg nicht mehr hoch laufen und musste einen Umweg nehmen, um die Steigung zu vermeiden. Von Schäferidylle war hier rein gar nichts zu spüren. Ich war schweißgebadet als mich der Schäfer, zufrieden mit meiner Arbeit entließ und zum Abschied meinte, dass seine Frage eigentlich nur ein Scherz gewesen sei. Er hatte einfach nicht damit gerechnet, dass ich ihm, derart plump auf der Straße angesprochen, helfen würde. Dennoch machte mir die Arbeit großen Spaß. Auch deshalb, weil ich einmal einen völlig unerwartenden Perspektivenwechsel vornehmen konnte.

Der Schäfer ermöglichte mir, das, was ich hier sonst tat, mit ganz anderen Augen zu sehen. Während wir Zäune einsammelten, schleppten und rollten, starteten immer wieder Schleppzüge vom Segelflugplatz. Die Weide befand sich unmittelbar in Verlängerung der Startbahn, jeder Flieger musste nach dem Start links an diesem Hang vorbei fliegen. Es war kein Tag für Streckenflüge, aber dafür wurde bei der Flugschule ausdauernd, Start um Start, geschult.

Während ich meine Zäune den steilen Berg hoch schleppte, sah ich den startenden Fliegern zu, und fühlte mich in meine Anfangszeit als Flieger zurückversetzt. Die Maschinen wurden am Start fertiggemacht, das Seil, das den Segelflieger mit der Schleppmaschine verband, wurde eingeklinkt, die Flügel waagerecht gehalten, der Startleiter funkte dem Schlepppiloten die Freigabe und dann setzte sich als Folge der Bewegung des Gashebels im Motorflugzeug der gesamte Schleppzug träge in Bewegung, nahm Fahrt auf und kam dann, schrittweise, der Segelflieger zuerst, dann die Schleppmaschine, in die Luft. Nur wenige Sekunden nach dem Abheben flogen sie dicht an uns vorbei und ich musste jedes Mal den Kopf heben und ihnen einen Weile nachsehen.

Dieses Nachsehen beinhaltete meine gesamte Sehnsucht, die Sehnsucht, die jeder Flieger kennt. Obwohl die Startvorgänge sich fast bis ins Detail gleichen, obwohl ich lieber selbst in meinem Flieger saß, obwohl an diesen Schulstarts nichts wirklich Besonderes oder Aufsehenserregendes war, musste ich den beiden durch ein Seil verbundenen Fliegern doch jedes Mal hinterher blicken. Sie stiegen gemeinsam in den Himmel, meist in einer weiten Linkskurve, dann klinkte in einer für das Übungsprogramm ausreichenden Höhe das Segelflugzeug aus, die Schleppmaschine tauchte links nach unten weg, sank so rasch sie konnte, warf dann das Seil neben der Startstelle ab und landete nach einer Steilkurve, bereit zum nächsten Start. Daran war, wenn man es ein paar Mal gesehen hatte, nichts Ungewöhnliches. Und trotzdem hefteten sich meine Augen immer wieder an die startenden Flieger, immer wieder blickte ich auf, verfolgte ihre gemeinsame Spur am Himmel, wartete darauf, das der Moment des Ausklinkens kam und war neugierig darauf, was danach geschah.

Ich erinnerte mich an meine ersten Starts, an die Fliegerschule, in der ich in die Regeln des Fliegens eingeweiht wurde, an meinen ersten Alleinstart. Aber dieses Nachblicken war mehr als nur diese billige Nostalgie. Es war die geronnene Geste der Sehnsucht nach dem Fliegen selbst. Der ewige Versuch, mit dem Mythos in Berührung zu kommen. Allein das Nachblicken reichte aus, um in einen anderen Bewusstseinszustand zu gelangen. Und wahrscheinlich gibt es einen tieferen Grund dafür, warum alle Flieger dieser Welt gerne Flugzeugen hinterher blicken. Und die, die Flugzeugen hinterher blicken, ohne selbst Flieger zu sein, wissen nur noch nicht, dass sie Teil dieses Mythos sind, Teil der Sehnsucht, den Himmel zu seiner zweiten Heimat zu machen – wie das Wolf Hirth einmal auszudrücken versuchte.

Ich vernachlässigte meine Arbeit beim Schäfer nicht, aber ich konnte doch nicht anders, als immer wieder die Kreise zu zählen, die der Segelflieger über mir in die Luft schrieb, niemand hätte sich über mich beklagen können, aber ich musste doch immer wieder nachsehen, ob der Flieger stieg oder sank. Und damit war diese Situation symptomatisch für mein ganzes Leben als Segelflieger. Natürlich tat ich, was in meiner Macht stand, um meine Arbeit richtig zu machen, natürlich wollte ich mich in meinem Beruf bewähren und die Anerkennung der anderen erhalten. Aber ich konnte einfach nicht anders, als bei allem, was ich tat, ans Fliegen zu denken, mich nach dem nächsten Flug zu sehnen oder mir zurückliegende Flüge in Erinnerung zu rufen. Niemand würde das auffallen (mit Ausnahme meiner Frau), aber dennoch verwandelte mich jeder Blick durch ein Fenster nach draußen, jedes bisschen Himmel, das ich an den Orten, an denen ich mich in meinem beruflichen Alltag befand, erblicken konnte, jede Wolke, die sich auf meiner Netzhaut abbildete, wieder in den sehnsüchtigen kleinen Jungen, der sich einst war, als ich das erste Mal einem Flieger hinterher sah, ohne dabei sagen zu können, was ich wusste, die einfache Tatsache, das auch ich fliegen wollte.

An diese Dinge konnte ich denken, während ich die Zäune schleppte und ich war dankbar für die Gelegenheit. So flog ich auch an diesem Tag, den ich am Boden verbrachte. Ich flog in Gedanken, wie so oft, an der Stelle der anderen. Doch ich sollte dem Schäfer noch mehr Einsichten verdanken, die mich mit mir und meiner Fliegerseele konfrontierten. Aber man sucht sich die Möglichkeiten nicht immer selbst aus, sie bieten sich im Leben, man greift zu, oder man verpasst die Chance für immer.

Am folgenden Tag lud uns der Schäfer, wieder im Vorbeifahren, zu einem Bier in seinen Schafstall, der sich am anderen Ende des Flugplatzgeländes befand, ein. Ich hatte diesen Stall schon bei so vielen Überflügen und Landungen gesehen, ohne zu wissen, was sich darin befand. Nun machten sich meine Frau und ich auf den Weg, den Schäfer dort zu besuchen. Ein kleiner Kiesweg führte uns dort hin, gesäumt von Wiesen, auf den sommerhohes Gras stand und in denen die Grillen ihr Orchester anstimmten.

Der Schäfer saß an einem kleinen Klapptisch, der vor der komplett geöffneten Westseite der Scheune stand. Beim Näherkommen wurde die Scheue, die aus der Ferne noch klein und niedlich ausgesehen hatte, immer größer und als wir vor dem offenen Hallentor standen, konnten wir über deren Volumen nur staunen. Der Schäfer hatte schon Stühle für uns aufgebaut, bot uns Bier, Lamm-Burger mit Senf und das „Du“ an, eine Kombination aus zünftiger Brotzeit und zwischenmenschlicher Nähe.

Wir redeten uns warm und um uns begann die Nacht. Die Tage wurden jetzt, Ende Juli, schon erkennbar kürzer. Bald saßen wir nur noch im Licht einer einzigen Kerze, die im Westwind flackerte und ab und zu erlosch, so dass irgendjemand sie wieder mit einem Streichholz entzünden musste.

Der Schäfer, der seinen Hut so gut wie nie abnahm, stellte uns ein paar halbherzige Fragen nach unserem Beruf, unserem Wohnort und den üblichen Dingen. Ansonsten erzählte er über sich, seine Schafe und die Schwierigkeiten seines Berufes. Willig, neugierig und fasziniert hörten wir ihm gerne zu. Es war eine fremde Welt, in die wir mit seiner Hilfe eintauchen konnten. Eine Welt, die wir nur aus Klischees kannten, von denen uns die Erzählung des Schäfers jedoch vollständig befreite.

Ich hatte schon die letzte Hoffnung abgegeben, außer meinem aktiven Zuhören einen erkennbaren Beitrag zur Gestaltung des Abends leisten zu können, als der Schäfer sich plötzlich an mich wandte. Er habe eine Frage, eine Frage, die ihn dringend interessiere, die er sich immer wieder frage, die ihn umtreibe und auf die er keine Antwort wisse. Und da ich nun mal Flieger sei, könne ich diese Frage vielleicht beantworten. Ich schaute ihn an, sein Gesicht war nie länger als einen Sekundenbruchteil zusammenhängend erkennbar. Das flackernde Kerzenlicht ließ ihn einmal als einen bärtigen weisen Mann erscheinen, der mit sonorer Stimme Weisheiten einer halb untergegangenen Welt verkündet, mal als einen zotteligen Teufel, der seine Fratze verzog. Ich fragte ihn, was er denn wissen wolle, was mit dem Fliegen, oder genauer, mit dem Segelfliegen zusammenhängt.

Er beobachte die Segelflieger schon so lange, fing er an. Und er frage sich, ob man denn unendlich hoch in den Himmel steigen könne, oder ob es da etwas gibt, was das Steigen begrenze. Plötzlich waren er, der Schäfer, und ich, der Segelflieger uns ganz nahe. Schon sein ganzes Leben lang lebt der Schäfer mit dem Wetter, beobachtet die Wolken und wagt auf der Basis althergebrachter Bauernregeln Prognosen, die für ihn und seine Schafe über Freund oder Leid entscheiden. Er weiß so viel mehr als ich über das Wetter, doch an diesem Punkt hatte er einen blinden Fleck. Ich erklärte ihm, alles über Thermik, was ich wusste. Erzählte, dass die Sonne die Luft niemals direkt erwärmte, sondern zuerst den Erdboden und dann, indirekt, die Luft. Malte mit meinen beiden Händen aus, wie die derart erwärmte Luft in Blasen vom Erdboden ausgehend aufstieg, höher und immer höher. Während ich so meine Hände in den dunklen Nachthimmel streckte, folgten ihnen die Blicke. Aber eben nicht unendlich, fuhr ich mit meiner Erklärung fort, sondern nur solange, bis sich die Luft abgekühlt hatte und genauso warm oder kalt war, wie die Umgebungsluft. An diesem Punkt, so schloss ich meine Erklärung, kondensiere die aufsteigende Luft, was man als Laie und vor allem als Segelflieger daran erkennen könne, dass ich eine Wolke bildet.

Mit dieser Erklärung war der Schäfer sichtlich zufrieden. Er lehnte ich zurück, sein Gesicht verschwand aus dem Lichtkegel der Kerze und er nahm wieder seinen Erzählfaden auf und berichtete aus seinem Leben als Schäfer, seinem Ärger mit der Bürokratie, dem Verfall der Preise und der Werte und vielen Dingen mehr, Themen, die um seinen Berufsstand schwirrten, wie Fliegen um einen Misthaufen, hartnäckig und ärgerlich, und sich einfach nicht vertreiben ließen.

Ich war müde und hörte nur mit einem Ohr zu. Und damit hatte ich Gelegenheit, halb zuhörend, halb abwesend, mich an meinen letzten Flug zu erinnern. Er war dramatisch und aufregend zugleich. Kein normaler Flug in normalem Segelflugwetter, bei dem einfach Kilometer um Kilometer abgespult wird. Sondern ein Flug für das Auge, eine ästhetische Luftwanderung und ein nervenzereissendes Überraschungspaket gleichermaßen.

Der Flug begann mit langsamen Vortasten bei noch mäßiger Thermik. Ich flog nach Osten, bis Ansbach, ein inzwischen bekanntes Terrain. Vor mir wurden die Wolken immer dichter und dichter. Mein Plan, Nürnberg zu umfliegen wurde immer unwahrscheinlicher. Das Wetter war labil, überall war mit plötzlich auftretenden Überentwicklungen zu rechnen. Ich zauderte innerlich, obwohl ich längst wusste, das mein ursprünglicher Plan nicht mehr realistisch war. Als mir dann aus dunklen, fast schwarzen Wolken nacheinander drei andere Flieger entgegenkamen, die tief unter mir ins Helle flüchteten, da ließ ich den letzten Widerstand fallen und drehte um. Dabei merkte ich, das mein Kompass nicht funktionierte, er klemmte und zeigte stur einen Südkurs, den ich niemals flog. Wieder eine kleine Panne, doch auch hiervon wollte ich mich nicht aufhalten lassen.

Ich wendete und hielt Kurs auf den Odenwald, noch weit im Westen. Mein Plan war damit hinfällig aber immerhin flog ich noch. Wäre ich stur weiter geradeaus geflogen, so wie es mein Plan von mir verlangte, wäre ich mit ziemlicher Sicherheit auf dem Acker gelandet. So flog ich immerhin noch, und gar nicht einmal schlecht. Unter einer Wolkenstraße raste ich nach Westen und war bald in einer Gegend, die ich noch nicht kannte. Nun brauchte ich ein neues Ziel. Ich studierte die Karte, so gut das mit einer Faltkarte in einem engen Segelflugzeugcockpit während des Fluges eben ging und entschied, bis nach Heidelberg und dann zurück zum Hornberg zu fliegen. Schon hatte ich den Neckar in Sicht, der sich tief in das Gelände eingrub. Nördlich davon begann der Odenwald. Die Topographie faszinierte mich, doch ich hatte nur wenig Zeit und Muße, mich darin zu vertiefen. Es gab einfach zu viel zu tun. Noch waren 30 km bis Heidelberg zu fliegen, ich konnte die Stadt schon im Dunst erkennen, vor allem aber sah ich das flache Rheintal, dass sich dahinter wie die Verheißung einer anderen Welt erstreckte. Genau über dem Heidelberger Schloss wendete ich und gedachte einen Moment lang Max Weber, dem großen Soziologen, dessen Wirken für immer mit Heidelberg verbunden war. Aber hier oben sollte ich kein Soziologe sein, der sich an den Gründervater seiner Wissenschaftsdisziplin erinnert. Meine Aufgabe bestand schlicht darin, umzukehren und den Weg zum Hornberg zu finden. Rechtzeitig zu finden. Ich hatte in meinem Fliegerleben noch nie einen derart schnellen Wetterwechsel erlebt, selbst in Australien ließen sich die Gewitter mehr Zeit. Während ich gerade noch den wunderschön von der Sonne beschienenen Odenwald bewunderte und versuchte, mir für den nächsten Flug ein paar markante Wegmarken einzuprägen, hatte ich im Norden ein gewaltiges Gewitter zusammengebraut, dass nach mir griff. Jedenfalls fühlte es sich so an.

Das Gewitter bildete einen riesenhaften Schirm, der sich zusehends über mich wölbte. Vor mir zogen sich die hellen Wolken zu einem dunklen Himmelvorhang zusammen. Das Wolkenfresko, das noch vor wenigen Minuten strahlend leuchtete und an dessen Verheißung ich mich erfreut hatte, war nun in dunklen Grautönen übertüncht, so als wäre ein himmlisches Verbot für alles Freudige, Schöne, Kraftvolle, Saubere und Strahlende erlassen worden. Und aus dem Grau wurde zusehends die Farbe Schwarz, die Farbe der ewigen Verdammnis. Nur noch vom Südwesten her leuchte die Sonne unter diesen Schirm und riet zu einer Fluchtrichtung. Doch ich musste in die andere Richtung. Was hätte es mir gebracht, jetzt in die falsche Richtung zu fliegen? Stattdessen wagte ich mich unter die Wolken, die wie ein flächig aufgerollter Tunnel am Himmel wirkten.

Es begann zu regnen und meine Hoffnung, heute noch auf meinen Heimatflugplatz zu landen, schwand. Ich maßregelte mich für meine Schwäche und meinen mangelnden Willen und begann klarer zu kalkulieren, anstatt mich von der umgebenden Tristesse nicht nur physisch sondern auch psychisch herabziehen zu lassen. Ich hatte noch ausreichend Höhe und konnte eine Weile durch leichten Regen fliegen. Eine Weile, das ist ein relativer Begriff bei dieser Art der Fliegerei. 400 Meter Höhe waren in 400 Sekunden verbraucht. Fünf, sechs oder sieben Minuten würde ich so noch fliegen können. Schon begannen meine Augen den Erdboden nach geeigneten Landefeldern abzusuchen. Ein Flugplatz war nicht in der Nähe, so dass ich mich auf eine Landung auf einer Wiese oder einem Acker einzustellen hatte.

Während ich mich so innerlich auf eine Außenlandung vorbereite, merkte ich, dass ich stieg. Mitten unter dieser fast nächtlichen Schwärze, mitten im Regen. Ich stieg im Geradeausflug und ich stieg selbst dann noch, als ich es wagte, einen vorsichtigen Kreis einzuleiten, dann den zweiten und dritten flog. So ging das eine Weile. Bald war ich, sanft aber stetig steigend, dort oben angekommen, wo die Wolke begann, die hier und heute nur aus einer amorphen Masse von Dunkelheit bestand und die umso bedrohlicher wirkte, je näher man kam. Aber ich hatte Höhe gewonnen und damit konnte ich weiter fliegen, in ein Gebiet, das weniger dunkel und bedrohlich war, zur nächsten Wolke. Man spricht nicht umsonst von Höhengewinn, in der Tat, diesen wenigen hundert Meter, die mir mein Höhenmesser jetzt mehr anzeigte, als noch vorhin, war wie die Ausschüttung eines Lottogewinns. Nun konnte ich mir den Luxus leisten, die nächste Wolke, die genau in Kursrichtung stand, anzufliegen.

Und damit hatte mich mein erstes Abenteuer, den Durchflug des Schauers, bestanden. Meine Zuversicht, die ich schon verloren geglaubt hatte, kam, wie jemand, der beinahe ertrunken wäre, wieder an die Oberfläche, ich fühlte mich schlagartig besser und kräftiger.

Dieser Zustand hielt jedoch nicht lange an. Noch hatte ich gut 70 Kilometer zu fliegen. Beim Kreisen unter der nächsten Wolke entdeckte ich, dass die schwarze Wolkenwand definitiv zu einem Gewitter gehörte. Und dieses Gewitter bildete nun einen Schirm aus, der sich bedrohlich über mich wölbte. Der Schirm und damit das Gewitter kamen immer näher.

Von diesem Moment an war ich auf der Flucht. Immer wenn ich beim Kreisen zurückblickte, konnte ich erkennen, wie sich das Gewitter in meine Richtung verschob. Und inzwischen schauerte es an mehreren Stellen kräftig. Kein Vergleich zu den wenigen Regentropfen, die ich vorhin abbekommen hatte, diese Schauer würden mich nach unten spülen, gerade so, als würde man an Insekt oder eine Spinne in den Ausguss spülen. Ich stieg unter den spärlichen Wolken, die mir auf meinem Weg zur Verfügung standen mehr schlecht als recht. Da ich kaum Höhe machte, konnte ich kaum vorfliegen. Da ich mich kaum vom Fleck bewegen konnte, kam das Gewitter immer näher. Ich musste entweder höher steigen um weiter vorfliegen zu können. Das aber würde Zeit verbrauchen, Zeit, in der mich das Gewitter gewiss einholen würde. Oder ich musste es versuchen, in niedriger Höhe weiterzufliegen, um erst einmal den Abstand zwischen dem Gewitter und mir zu vergrößern. Und dabei darauf hoffen, dass ich dabei noch irgendwo einen Aufwind finden würde, der mir wieder einen Höhengewinn versprach. Ein Blick nach hinten, ich hatte keine Wahl, so niedrig wie ich war, flog ich los.

Ich flog und flog und nichts rührte sich, die Luft war ruhig, wie eine gesperrte Autobahn. Ich wagte nicht, mich umzudrehen und nach hinten zu sehen. Noch ein paar Hundert Sekunden, dann war ich am Boden. Meine Neugierde wurde immer größer. Ich wollte wissen, ob ich es schaffte, dem Gewitter davon zu fliegen. Ein Kreis nur, dann würde ich wissen, ob sich der Abstand vergrößert hatte oder nicht.

Ich drehte und ich sah die wunderbarste Naturerscheinung, die mir je über den Weg gelaufen war. Eine Linie aus Licht zog sich von West nach Ost über den Boden. Wie mit dem Lineal gezogen trennte diese scharfe Linie den Bereich des Gewitters vom Rest der Landschaft. Ich ärgerte mich, keinen Fotoapparat griffbereit zu haben. Das Gewitter warf einen Schatten auf den Boden, einen Schatten, der von seinem Schirm gebildete wurde, der sich in vielen Kilometern Höhe, in eisiger Kälte gebildet hatte. Unter dem Schirm war es Nacht. Lokale Schauer gingen nieder, die mir wegen ihrer Intensität Angst machten. Vor dieser Linie war die Welt noch in Ordnung, der Sommer hell und freudig, kein Regen, kein Schatten, gerade so, als gäbe es nie etwas anderes. Ich war wenige Kilometer von dieser Trennlinie aus Licht entfernt. Noch war ich vor ihr.

Ich musste unbedingt im Hellen bleiben, wenn ich überhaupt eine Chance haben wollte, nach Hause zu kehren. Ich kreiste dort, wo sich mir ein Aufwind anbot, jetzt war keine Zeit mehr, wählerisch zu sein. Immer kamen ein paar Meter heraus. Meter, die ich auf meiner Flucht vor dem Gewitter sofort wieder in Strecke umsetzte, den nächsten Aufwind suchend, den nächsten Höhengewinn verbuchend und so fort in einer Reihe, ohne groß nachzudenken, denn ich wollte nur fort, fort von diesem Ungetüm, dass nach mir griff, das die Macht hatte, mich zu zerstören. Und irgendwann, nach vielen tastenden Versuchen, bemerkte ich, dass sich der Anstand zwischen dem Gewitter und mir vergrößert hatte. Ich entspannte meinen Körper, denn ich hatte gar nicht bemerkt, wie sehr ich mich verkrampft hatte.

Doch die eine Gewissheit bedeutete nunmehr nur eine neue Ungewissheit. Ich war mir nun sicher, dass mich das Gewitter nicht mehr erreichen würde, doch ob die Höhe, die ich nun hatte, für meinen Endanflug reichen würde, war mehr als ungewiss. Aber ich war beflügelt. Ich glaubte an mich. Ich war bis hierher gekommen, nun würde ich auch den Rest schaffen. Schlingernd flog ich in der Luftmasse umher, suchte nach meinem letzten Aufwind des Tages. Und wie so oft fand ich ihn dann dort, wo ich ihn nie vermutet hätte, unverhofft, doch wer will wohl in einer derartigen Situation undankbar sein und die Realität am Maßstab irgendwelcher Theorien prüfen?

Nach endlosen Kreisen mit äußerster Konzentration, Kreisen, von denen mir jeder in kaum messbaren Maßstäben Höhe schenkten, die aber in der Summe dann doch den Unterschied machten, fiel mein Blick auf den Höhenmesser. Und dann war ich mir sicher: Ich würde es schaffen. Ich ging in den Geradeausflug über und flog, so ruhig es ging, auf das Fluggelände zu. Dort kam ich gerade noch mit genug Höhe an, um in einem Direktanflug auf der Piste auszusetzen.

7. Juli 2010

Solange die Sonne scheint

Solange die Sonne noch scheint, werde ich fliegen! Diesen Satz sage ich mir immer wieder leise vor, um mich zu motivieren. Ich will auf keinen Fall aufgeben. Ich will weiter fliegen! Ich will länger fliegen, als alle anderen. Fliegen ist nicht nur der Sieg über die physischen Grenzen des Menschen, der zum Gleiten in der Luft offensichtlich nicht geboren wurde. Fliegen, das bedeutet vor allem auch den Sieg über selbstgemachte psychische Begrenzungen.

Schon kurz nach meinem Start war mir klar, dass es heute nicht leicht werden würde, beide Grenzen zu überschreiten. Das erste Mal rollte mein Flieger treu der Schleppmaschine hinterher, ohne die üblichen Ausbruchversuche nach links oder rechts zu unternehmen. Irgendwann bemerkte ich dann, dass ich die Wölkklappen irrtümlicherweise auf -7 Grad gerastet hatte, ein Irrtum, der mir den ersten ruhigen Start verschaffte, seit ich versuchte, mich mit diesem Flieger anzufreunden. Ich korrigierte die Stellung der Wölbklappen und nahm daraufhin eine normale Position hinter der Schleppmaschine ein. Diese zog mich makellos sauber, ohne sich weiter um meine Anwesenheit zu kümmern in den Himmel. Dieser war von Cirren-Wolken gezeichnet, was nichts Gutes verhieß. Außer dem Steigen der Schleppmaschine machte ich keine Aufwärtsbewegung beim Blick auf mein Variometer aus. Den Blick konnte ich mir sowieso sparen. Nichts rüttelte, alles war wattig-ruhig, eine Luft, die einen Segelflieger so gar nicht passt. Es sind die warmen Aufwinde, die sich als Böen und Turbolenzen ankündigen, die wir suchen. Wir sehnen uns nach dem Schütteln der Flügel, die, nur scheinbar unwillig kundtun, dass es sich an einer bestimmten Stelle im dreidimensionalen Raum, in dem wir uns bewegen, lohnen wird, zu kreisen. Und dann kreisen wir in dieser warmen Luft glücklich empor.

Davon war heute nichts zu spüren. Enttäuschung machte sich bei mir breit, noch ehe ich hinter der Schleppmaschine ausgeklinkt hatte. Ich hörte, wie sich der Segelflieger, der vor mir gestartet war, in der Platzrunde zur Landung meldete: Abgesoffen. Gleich, so war ich mir sicher, ging es mir ähnlich, eine unumkehrbare Logik würde mich wieder nach unten zwingen. Nicht die Schwerkraft zieht uns nach unten, wie man allgemein sagt, es ist der fehlende Auftrieb.

Obwohl erst kurz nach Mittag, war der Himmel nicht wie sonst voller Licht. Graue, immer dunkler werdende Wolkenschleier zogen von Norden herein. Eine Abschirmung breitete sich aus. Der Name passte: Wie ein Schirm sperrten sich die Wolken zwischen Himmel und Erde. Wie ein Schirm schatteten sie den Boden ab, so dass die Sonne keine Chance hatte, die erdnahen Luftschichten zu erwärmen. Wo sollten hier noch Aufwinde entstehen? Kein Vogel weit und breit, der mir zeigen konnte, wo sich vielleicht doch noch ein schwacher Luftkanal mit warmer Luft befand. Kein Anzeichen für Thermik in Sicht.

Ich klinkte einfach aus und ließ die Schleppmaschine nach links wegkippen. Es hatte keinen Sinn mehr, einfach immer weiter hinter dem kleinen Tiefdecker herzufliegen. Obwohl ich mir sicher war, dass der Flug kaum mehr als 5 Minuten dauern würde, fuhr ich das Fahrwerk ein und stellte das elektronische Variometer lauter. Zu meiner großen Überraschung piepste es, schwach, aber stetig und deutlich. Auch wenn ich es nicht glaubte, hier ging es nach oben. Also versuchte ich, diesen schwachen Thermikbart so gut es ging zu halten. Ich bemühte mich, zu erspüren, wo es nach oben ging. Das war erstaunlich einfach, und ich freute mich darüber, in einem Flieger zu sitzen, der mich mit solch feinfühligen Signalen versorgte. Mal hob sich die Nase leicht, nur um dann, ein paar Meter weiter, wieder zu sinken. Mal zitterte der linke Flügel, nur um sich eine Sekunde später wieder in die Horizontale zu begeben. Dann konnte ich mir, auch ohne Anzeigeinstrument, sicher sein, dass sich an diesen Stellen warme Luft in den Himmel hob, die sich nicht darum scherte, meinen Flieger und mich als Beiwerk mit nach oben zu befördern.

Ich tippte ins Seitenruder, um den Signalen zu folgen. Das Piepsen des elektronischen Variometers zeigte mir, dass meine Reaktion richtig war. Ich versuchte mich in engen Kreisen an den Aufwind anzuschmiegen, von dem ich, obgleich er unsichtbar war, eine räumliche Vorstellung hatte. Immer wieder musste ich das Bild in meinen Kopf korrigieren, weil sich die Natur mehr oder weniger widerspenstig verhielt. Die empirische Welt verhält sich immer widerspenstig unseren Vorstellungen gegenüber, meist glauben wir sogar, die Welt müsse sich unseren Vorstellungen anpassen und nicht umgekehrt. Aber irgendwo in der Mitte trafen sich Vorstellung und Wirklichkeit. Mit einem minimalen, gerade noch anzeigbaren Steigen hielt ich mich in der Luft. Ich vertraute den Gesetzen der Natur. Solange die Sonne schien, musste sich irgendwo Luft erwärmen. Solange die Sonne schien, würde es mir hier oder dort gelingen, meine Kreise so zu fliegen, dass ich mich in der Luft halten konnte.

Und nun sogar das: Ich spürte, wie ich gehoben wurde, es ging also noch. Das Variometer zeigte mir an, dass ich sogar mit zwei Metern pro Sekunde stieg - ein Traum, der nicht lange anhielt. Aber dennoch konnte ich einen guten Meter Steigen gewinnen und fand mich 3 Minuten später 200 Meter höher. Erstmals höher als beim Ausklinken freute ich mich über diese neue Perspektive.

Das war sicherlich kein großer Flug. Keiner, der mich über hunderte von Kilometern über Land führte. Gerade mal 15 Kilometer wird mir mein Logger nach der Landung ausrechnen. Für OLC-Junkies ein Witz! Eine Strecke, die man auch noch als Wanderer an einem Tag bewältigen kann. Aber die Qualität dieses Fluges lag darin, dass ich etwas für mich erreichen konnte, an das ich anfangs nicht geglaubt hatte! Alle anderen Flieger landeten nach weniger als zehn Minuten wieder. Ich aber taumelte wie ein Blatt durch die Luft, in jene Richtungen schwankend, die mir für ein paar Sekunden Auftritt versprachen. Und diese Rechnung ging erstaunlicherweise auf. Und ich freute mich wie ein Kind, das ein Spielzeug findet, das anderen nicht haben.

Der Himmel wurde immer trüber, das Grün der Sommerwiesen immer weniger einladend. Im Schatten verliert sich jeglicher Reiz einer Landschaft. Aber ich wusste, oder ahnte, dass der Boden, der von der Sonne erwärmt worden war, noch nicht alle seine Kraft verloren hatte. Dort war es der Steinbruch, der mich anlockte, drüben ein kleines Dorf, das seine Restwärme abgab. Immer reichten mir die schwachen Luftblasen, die von diesen Stellen abgesondert wurden, um mich in einer erträglichen Höhe über dem Grund zu halten.

Dieses kleinräumige Fliegen schulte das Auge. Ich sah die Landschaft ganz anders als sonst. Ich achtete auf kleinste Details. Auf die Neigung von Hängen, den Bewuchs einer Gegend, die Form eines Tales, die Schroffheit einer Felswand, Treppenstufen in der Topografie, die vielleicht dazu nützlich waren, die Luft in meinem Sinne nach oben umzulenken. Wer so fliegt, wie ich es tat, der sieht fast mit den Augen eines Vogels. Und damit war dieser kleine Flug von dem ich mich nun verabschiede, näher an dem, was Fliegen tatsächlich ausmacht, als die raumgreifenden Flüge, bei denen Strecke um Strecke blind und oberflächlich zurückgelegt wird, weil es am Abend nur auf eine Zahl ankommt, die der Logger ausspuckt und die angeblich die Flüge der einzelnen Flieger vergleichbar macht.

Mein Flug heute war in seiner Einfachheit unvergleichlich. Die Leistung bestand allein darin, dass ich noch flog, während das andere nicht mehr für möglich hielten. Dadurch, dass ich mich „in der Luft hielt“, wie man sagte, wurde ich ein Teil dieser Luft. Das aber, das Verlöschen der Grenzen des irdischen Daseins, das Verschmelzen des Körpers mit dem Himmel, war doch der Traum, aus dem heraus sich einst der erste Mensch in die Lüfte erhoben hatte. Ich war diesem Traum, bei einem äußerlich unscheinbaren Flug, näher als sonst.

6. Juli 2010

Zugewinn an Selbstvertrauen

Der Asphalt vor dem Flugzeughangar ist um diese Zeit noch nicht so angenehm warm, wie sonst am Abend. Es ist noch früh am Morgen, gerade erst geht die Sonne über den Hügeln der Ostseite der Landepiste auf. Das Gras, das am Abend zuvor im Vollmondlicht gemäht wurde, verströmt den unverwechselbaren Duft von Sommer, der sich seit meiner Kindheit in mein inneres Universum eingeschrieben hat. Ich setze mich auf eine Bank vor dem Hangar, meine Frau lehnt ihren Kopf liebevoll an meine Schulter. Ich war schon früh aufgewacht und musste immer wieder an den großen Flug des Vortages denken. Wie konnte ich meiner Frau ein solches Erlebnis nahebringen? Was war von den Empfindungen, die ich in einer so ganz anderen Welt gesammelt hatte, überhaupt vermittelbar? Ich erinnerte mich an den Flug des vorherigen Tages.

Irgendwie hatte ich an diesem Tag gespürt, dass ich etwas Neues wagen würde. Der Wetterbericht sagte großflächig gute Thermik voraus und ich zögerte nicht, meinen Flieger nach dem Frühstück sofort startklar zu machen. Wir schoben ihn gemeinsam an den Start, so dass ich jederzeit bereit war. Nachdem sich die ersten Wolken gebildet hatten, begann der Himmel zu brodeln. Es ging fast schneller, als man sehen konnte. Hier ein Wolke, dort ein par Fetzen, die sich schnell zu einem Haufen zusammenschlossen und schnell riesige Himmelsballen bildeten. Ballen, aus denen dann die nächste Wolke rasant emporwuchs.

Ungeduld stieg in mir auf, mir war klar, dass ich mittlerweile schon zu lange gewartet und Zeit vergeudet hatte. Ich war keiner von denen, die mit einem Messer zwischen den Zähnen flogen und abends weinten, wenn sie zwei Kilometer weniger geflogen waren, wie ihre Kameraden, aber ich war leistungsorientiert. Ich wollte weit kommen, hauptsächlich deshalb, um nicht immer dieselbe Landschaft unter den Flügeln zu haben. Ich brauchte Abwechslung, wollte neue Berge, Flüsse, Städte und Gegenden erkunden.

Denn mit dem Fliegen war es, wie mit vielen anderen Dingen im Leben auch. Nur wenn die richtige Portion Herausforderung mit dem verbunden war, was man tut, ist es der Mühe wert. Weder wollte ich mich überfordern, noch unterfordert sein.

Es hat lange gedauert, bis ich diese wichtige Lektion gelernt hatte: Nur wenn die richtige Entwicklung mit dem Fliegen verbunden war, war das Ganze sinnvoll. Nach einem langen Tag in der Luft, auf dem gemeinsamen Weg zum Abendessen fragte mich eines Tages ein Segelflieger, worin mein Ziel beim Fliegen bestehen würde. Ich war von dieser Frage wie gelähmt, hatte ich doch bis dahin angenommen, das Fliegen nicht weiter begründungsnotwendig sei. Ich dachte immer, dass das Segelfliegen an sich schon der Grund sei, dass es sich sozusagen aus sich selbst heraus erklärte. Doch das war falsch. Wie mir in dieser Sekunde plötzlich klar wurde, gibt es viele Gründe, warum Menschen fliegen, vor allem aber solche, die ihnen selbst nicht bewusst sind. Warum war ausgerechnet ich Segelflieger geworden? Was trieb mich immer weiter und weiter? Warum konnte ich, trotz vieler Erschwernisse und Ärgernisse nicht darauf verzichten? Und wenn ich es doch einmal darauf verzichtete, einer Frau zuliebe etwa (früher), warum litt ich dann und nahm letztlich lieber in Kauf, die Beziehung zu beenden, als das Fliegen aufzugeben?

Mir war einfach nicht klar, warum ich es wirklich tat. Und mir war ebenso wenig klar, welche Herausforderung ich wirklich suchte. Mit anderen Worten: Die Entwicklung, zu der das Segelfliegen für mich gehörte, war mir selbst ein Rätsel. Ein anderer Flieger erzählte mir beim abendlichen Grillen davon, wie er sich von der Meinung der anderen (scheinbar) freimachte und seinen eigenen Weg ging, wie er versuchte, durch das Fliegen für sich selbst zu wachsen. Doch worin bestand dieses Wachstum, über einige diffuse und meist nachgeplapperte Worte hinaus nun wirklich?

Nun war es Zeit. Ich startete als Zweiter. Schon in niedriger Schlepphöhe gab es kräftige Schläge unter den Flügeln, das Motorflugzeug, dass mich in den Himmel zog, wurde immer wieder von den unsichtbaren Kräften, die hier zugange waren, so schnell hochgehoben, dass ich Mühe hatte, ihm durch einen Zug am Steuerknüppel zu folgen. Mir war klar, dass ich schon eine halbe Stunde früher hätte starten sollen. Nachdem ich ausgeklinkt und nach rechts weggedreht hatte, wurde dieser Eindruck nur noch bestätigt. Schon die erste Wolke zog mich rasch immer höher und höher. Mühelos erreichte ich die Basis, dachte noch kurz an meine Frau, die mir vielleicht vom Boden aus mit ihren Blicken gefolgt war und flog dann in nordwestlicher Richtung davon. Ich wollte keine Zeit verlieren und nahm so direkt es ging Kurs auf das Nördlinger Ries, dass ich wegen eines Tiefflugmanövers der Luftwaffe nordwestlich umrunden musste. Mit hoher Geschwindigkeit hüpfte ich von Wolke zu Wolke, jede empfing mich dort, wo ich es erwartete mit guten bis sehr gutem Steigen, so dass ich mich schon bald links neben dem markanten Hesselberg wiederfand, der sich gut von der sonst eintönigen Landschaft abhob und mir als Wegzeichen diente.

Es war noch recht dunstig, die Sicht schlechter als sonst, so das ich meine nächsten Wegpunkte, den Altmühlsee und die Brombachtalsperre mehr erahnen als sehen konnte. Mein Plan war es, südlich um Nürnberg herumzufliegen. Doch dieser Tag und diese Gegend schienen verhext zu sein. Im Gebiet um die Seen hatte ich schon immer meine Schwierigkeiten. Heute tastete ich mich bis nach Roth vor und musste dann damit kämpfen, meine Wahrnehmung der äußeren Welt mit meiner inneren Vorstellung in Übereinstimmung zu bringen. Der Himmel wurde immer dunkler und die Wolken zogen sich zu einem bedrohlich wirkenden Brei zusammen. Hier war kein Weiterkommen möglich. Noch während ich darüber nachdachte, was ich nun tun sollte, schoss ein anderer Segelflieger an mir vorbei. Es kam mir vor wie in Bote, der mir sagen sollte, „Dreh um, hier geht es nicht weiter. Siehst du es nicht, auch ich drehe“. Egal wer oder was mir hier eine Botschaft sandte, sie war inzwischen klar. Ich könnte auf meinem Plan bestehen und versuchen, unter dieser Abschirmung hindurch bis nach Regensburg fliegen. Wahrscheinlich würde ich mich dann in weniger als einer viertel Stunde auf einem Acker wiederfinden und über meine Dummheit fluchen. Ich könnte aber auch einfach umdrehen und in Kauf nehmen, dass ich 50 Kilometer Strecke umsonst geflogen war, die mir heute Abend in meiner Gesamtbilanz fehlen würden. Dafür hätte ich noch den ganzen Tag vor mir.

„Wer A sagt muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, das A falsch war.“ (B. Brecht). Also drehte ich und schon Minuten später befand ich mich trotz dieser guten Entscheidung in Schwierigkeiten. Mein E-Vario spielte verrückt und zeigte mir traumhafte Steigwerte, obwohl ich mich rasend schnell im Sinkflug geradeaus befand. Mir blieb nichts anderes übrig, als es immer wieder ein- und auszuschalten. Als das alles nichts half, schaltete ich es einfach ab.

Plötzlich war es ungewohnt still im Flieger. Das also bedeutete Segelfliegen. Der nervöse Klangteppich, der sich sonst den ganzen Flugtag lang über meine Ohren legte, war weg, ich hörte nur noch mein eigenes Fahrgeräusch, meinen Atem und einen Luftzug, der durch das geöffnete Seitenfenster kam, ein leises Zischen, dass mich wie immer beruhigte, denn es signalisierte mir, dass ich mich angemessen schnell in dieser fremden Umgebung bewegte.

Während ich mich mit den technischen Problemen beschäftigen musste, fehlte mir die Aufmerksamkeit für die Thermik. Ich hatte, da ich gegen den Wind fliegen musste, rasch an Höhe verloren. So viel, dass ich jetzt nur noch ausreichend Höhe hatte, um eine dicke Wolke voraus anzufliegen. Sie war für den Moment meine einzige und letzte Chance. Direkt über der Stadt Ansbach stieg ich in einem mächtigen Aufwindkanal unter der Wolke ein, der mich rasch wieder in eine komfortable Höhe und entspannte Stimmung brachte. Ich sah den militärischen Landeplatz, auf dem in mehreren Reihen Kampfhubschrauber standen. Ich drehte auf Nordkurs. Jedenfalls so gut es ging, denn mein Kompass war auch defekt. Das war mir schon beim letzten Flug aufgefallen, aber ich hatte bisher keine Zeit gehabt, ihn auszutauschen. Jetzt musste ich genau navigieren, damit ich nicht in das Flugbeschränkungsgebiet von Nürnberg einflog. Aber zum Glück kannte ich die Strecke grob von einem Flug der letzten Woche und peilte eine Wolkenlinie über dem Steigerwald an. Ich beschloss zum Flugplatz Burg Feuerstein zu fliegen. Bamberg war also mein nächstes Etappenziel. Unter der Wolkenstraße raste ich so schnell es ging nach Norden, hielt immer ein wenig gegen den Westwind, damit ich nicht aus Versehen in das Flugbeschränkungsgebiet getrieben wurde. Dabei stellte sich schnell ein rauschartiges Vergnügen ein. Zwar wusste ich, dass eine solche tragende Linie nicht ewig halten würde, aber allein die Vorstellung, ich könnte ewig so weiterfliegen, hob meine Stimmung in Richtung ungehemmter Euphorie. Ich begann zu singen und meinen Flieger zu loben. Rechts tauchte inzwischen in der weniger dunstigen Luft die Stadt Bamberg auf, gut erkennbar an der Regnitz und dem parallelen Kanal. Aber wo war der Feuerstein? Vor über 20 Jahren hatte ich dort das Fliegen gelernt, alle meine Ersparnisse zusammengekratzt und nach zwei Wochen flog ich das erste Mal alleine. Damals war meine Welt die Platzrunde. Der nächste Flugplatz, die Friesener Warte, nur ein paar Kilometer entfernt, gehörte damals noch zu einer anderen Welt. Heute war ich so hoch, dass ich Schwierigkeiten hatte, die beiden Plätze zu finden.

Doch die Erinnerung kam wieder. Obwohl es so lange her war und obwohl ich die Welt damals mit anderen Augen sah, erinnerte ich mich an die groben Eckpunkte. Da war der Turm, dort der schroffe Abhang, das Plateau darüber war der Flugplatz, der wie ein L aussah. Irgendwo im Osten kreiste ein weiterer Flieger. Der Himmel müsste voll sein mit Segelfliegern, aber es war ein Dienstag und kein Wochenende. Mit gut 2000 Metern Basis flog ich von meinen Wendepunkt ab, nicht ohne vorher noch drei völlig unnötige große Kreise gedreht zu haben, weil ich mir diesen Blick und diesen für mich historischen Moment einprägen wollte. Aber irgendwann riss ich mich los, der Tag war noch lang. Zum Glück war ich schon um 11 Uhr gestartet und obwohl das eine halbe Stunde zu spät war, hatte ich noch viel Zeit vor mir. Ich wollte als nächstes zur Wasserkuppe und von dort zurück zum Hornberg. Da aber mein Kompass kaputt war, flog ich statt nach Nordwesten einen zu starken Nordkurs. Es ging schnell voran, die Bärte zogen gut, so dass ich mir keine Sorgen machte. War das schon die Rhön? Ich studierte die Karte und schaltete mein GPS an, dass ich nur mit einem Akku betrieben konnte und das daher meistens ausgeschaltet blieb. Ich befand mich südlich von Coburg. Nun hatte ich ja, was ich suchte: Neuland.

Noch nie war ich vorher hier gewesen, weder mit dem Segelflieger noch mit dem Motorsegler. In meinem Kopf gab es dazu keine noch so groben geografischen Informationen, die ich hätte abrufen können. Ich wusste nur, dass hier vor knapp 20 Jahren die ADIZ verlief, die Grenze zur damaligen DDR. Langsam dämmerte es mir. Dann musste die langgezogene Bergkette vor mir, ja, das musste der Thüringer Wald sein. Ich fluchte und freute mich zugleich. Ich fluchte, weil ich einen Abstecher gemacht hatte, der eigentlich gar nicht im Programm vorgesehen war. Und ich freute mich, weil ich wusste, dass dies ein gigantischer Flug werden würde. Unter einer Bedingung allerdings: Ich musste es noch zurück schaffen. Und das konnte ich mir in diesem Moment beim besten Willen nicht vorstellen. Nun aber nutzte ich erst einmal die gute Thermik am Thüringer Wald aus und beschloss, mir später Sorgen zu machen.

Zwei, drei Wolken und beherztes Vorfliegen und ich war einen großen Sprung weiter. Doch wo war ich? Meine Karte endete schon lange. Sie war so ungünstig gefaltet, dass ich sie erst im Flug umknicken musste. Das war nicht einfach. Ich hantierte mit der großen Karte, die ich aus vier Teilkarten zusammengeklebt hatte. Ich hatte keine andere Chance, als eine Minute lang blind zu fliegen. Ich konnte die Karte nur umklappen, wenn ich mir selbst die Sicht versperrte. Und was sah ich dann? Ich befand mich zu meinem eigenen Erstaunen in Suhl. Jetzt wurde mir wirklich mulmig. Genau in diesem Moment flog ich auch aus dem Aufwind und sank immer tiefer. Ich stellte mir vor, wie ungläubig alle am Hornberg reagieren würden, wenn ich hier auf einem Acker landen müsste, anrief und meine Position durchgab. Ich beschäftigte mich so sehr mit den vorweggenommenen Lästereien, dass ich mich kaum noch auf die Thermiksuche konzentrieren konnte. Endlich ermahnte mich eine vernünftige Stimme in mir. Ich riss mich zusammen, kreiste so sauber, wie es nur ging und arbeitete mich aus tiefer Höhe wieder nach oben. Fürs Erste war ich sicher, aber ich zweifelte nun daran, den Flug erfolgreich beenden zu können. Ich musste besser bei der Sache bleiben und mich nicht mit Dingen beschäftigen, die hier oben keine Rolle spielen. Wenn ich flog, musste ich fliegen. Sonst nichts. Um die Reaktionen der anderen konnte ich mich nach der Landung kümmern. Das war einfacher gesagt, als getan. Nun aber endlich zur Wasserkuppe. Ich war schon viel weiter nördlich als ich wollte und für heute war das definitiv genug. Ich wollte mein Blatt nicht überreizen.

Leider wurde nun das Wetter zusehends schlechter. Die Aufwinde wurden schwächer, die Basis sank ab. Dennoch hielt ich Kurs „West“ – so gut das ohne Kompass ging – auf die Wasserkuppe zu. Es war ein lang gehegter Traum von mir gewesen, den Berg der Flieger vom Hornberg aus zu erreichen. Nun war ich kurz davor. Aber welchen Preis würde ich dafür zahlen müssen? Hatte ich noch eine reelle Chance, zurückzufliegen? Immer wieder mahnte ich mich innerlich und manchmal auch mit lauter Stimme, einen Schritt nach dem anderen zu machen. Was sonst machte ich dieser Welt, in der ich mich befand, Sinn?

Von der Wasserkuppe aus drehte ich auf Heimkurs. Nun reichte es. Es war 16 Uhr und mir erschien es kaum noch möglich, den Weg zurück zu schaffen. Immer wieder rechnete ich im Kopf die Strecke und die verbleibende Zeit durch. Ich war schlecht auf einen solch großen Flug vorbereitet, eigentlich gar nicht. Von der Wasserkuppe aus kannte ich zumindest den ungefähren Weg zurück. Irgendwann erschienen im Dunst die Kühltürme des Kernkraftwerkes von Schweinfurt. Diese Wegmarke machte mir Mut, zumindest kannte ich diese Gegend aus meiner Würzburger Fliegerzeit. Aber das Wetter wurde nicht besser. Die Wolken trockneten ab und ich verlor das letzte bisschen Mut, dass ich noch in den Knochen hatte. Ich aß mein letztes Brot auf, um nicht unterzuckert zu sein, trank ein paar Schlucke Wasser und sah dem Elend ins Auge. Ich musste gegen den Wind, der stramm aus West kam, kreuzen. Die Wolken verschwanden. Ich war noch 150 Kilometer weit weg von meinem Heimatflugplatz, mein Kompass funktionierte nicht, die Gegensonne blendete. Ich wusste nicht so genau wo ich war, auch wenn ich da vorne irgendwo die mir vertrauten Kühltürme sah. Aber vor allem: Ich war tief. Sehr tief.

Querab von Bad Kissingen schaltete ich das GPS an. Was nützte es mir, die Batterien zu schonen, wenn ich bald landen musste. Zum Glück zeigte es mir an, dass ich mich in nur 5 Kilometern Nähe eines Flugplatzes befand. Ich sah nach rechts, tatsächlich, da war er. Eine schöne lange Piste. Ich entspannte mich, streckte meine Beine, entkrampfte meine Finger. Mit dieser Sicherheit in Reichweite konnte ich munter drauf los probieren. Ich flog also einige der Schleier an, denn Wolken gab es inzwischen keine mehr. Zu meinem großen Erstaunen hob mich die unsichtbare Thermik ganz gewaltig nach oben. Es ging also noch. Die Thermik war so stark, dass ich mir ausrechnete, dass ich mit etwas Glück noch von zwei Stunden Thermikdauer ausgehen könnte. Also munter weiter, dem Süden entgegen.

Das Licht war gleißend hell und blendete mich. Ich nahm grob Maß und flog ab, den Kühltürmen entgegen. Dort über der Stadt Schweinfurt kam ich tief an. Aber immerhin wusste ich nun, wie das Spiel heute laufen würde. Ein stetiges Vortasten gegen den Wind, das Ausnutzen unsichtbarer Kräfte am Himmel. Es war, also würde man die Luft anhalten, um über eine Mauer zu balancieren, von der man zu beiden Seiten herunterfallen kann. Ich versuchte so sauber wie möglich zu fliegen, um keine Schiebewiderstände zu erzeugen. An den Dampfwolken, die aus den Kühltürmen drangen, sah ich die Windrichtung am Boden und konnte mir die Stärke in meiner Höhe erahnen. Direkt vor den Kühltürmen drehte ich in einen Bart ein und gewann wieder ein paar hundert Meter Höhe. Mit jedem Strich, den der Zeiger auf dem Höhenmesser nach oben überschritt, gewann ich wieder ein wenig an Zuversicht. Aber es war noch so weit! Und schon so spät. Ich rechnete mir meine Chancen aus und kam auf kein besseres Verhältnis aus 70 zu 30. Gegen mich.

Bei der Volkacher Mainschleife, die ich auch noch von meinem Flug letzte Woche kannte, kreiste ich über den Weinbergen nach oben. Dann an Würzburg vorbei. Mein GPS zeigte mir, dass ich es bis dorthin schaffen würde. Es war 17 Uhr und ich verspürte den Drang, einfach aufzugeben. Ich kannte Würzburg. Dort in der Nähe lebten meine Eltern, sie würden mich abholen und ich könnte am nächsten Tag den Anhänger für das Flugzeug holen. Wie praktisch. Wie einfach. Wie unmöglich. Ich machte mich von dieser Suggestion los und versuchte mich endlich wieder auf meine Aufgabe zu konzentrieren. Und die bestand darin, so nahe wie möglich an den Hornberg zu gelangen. Schaffen würde ich es nie, dessen war ich mir inzwischen sicher.

Ab Kitzingen, wo ich noch einmal einen guten Aufwind im Blauen fand half mir die Autobahn, die A 7 als Leitlinie. Ich wusste, dass bei Südkurs irgendwann Rothenburg auftauchen müsste. Und da war auch schon die Stadt. Wenn ich dort landete, wäre es keine Schande mehr. Ich machte den Flugplatz zwischen Stadt und Autobahn aus, sah einen Motorflieger starten und merkte mir die Start- und Landerichtung. Dennoch flog ich weiter nach Süden, ich konnte ja jederzeit umkehren. Direkt über der historischen Altstadt bekam ich Anschluss an einen warmen Luftstrom, der nach oben stieg. Und ich mit ihm. Jetzt nicht nachlassen, nicht unsauber fliegen. Steil bleiben. Die Fahrt wegnehmen, die Trimmung optimieren. Die Aufwinde waren längst nicht mehr stark, aber es reichte aus. Ich rechnete mir die Zeit aus, die ich für 300 Meter Höhengewinn brauchen würde. Ich wusste, ich flog gegen die Zeit. Ich musste einen Kompromiss finden, zwischen Steigen und Vorankommen. Also weiter zum nächsten Platz, Belingries hinter dem Aufbahnkreuz. Würde ich das schaffen?

Ich war nicht sicher, zumal mich der Gegenwind immer rascher nach unten drückte. Ich erkannte die Stadt Crailsheim und beschloss, dass diese mir doch ihre Wärme abgeben könnte. Und tatsächlich fand ich Abrisskanten und immer wieder Bärte, die mich staunen ließen. Durch warme Luft, die nur kurz meine Flügel zum wackeln brachte flog ich einfach hindurch, weiter, weiter, vorne musste es besser werden. Oder gar nicht. Ich flog gegen die Zeit. Doch zu meinem großen Erstaunen fand ich immer wieder einen Aufwind, obwohl ich mich oft schon so tief befand, dass ich mich ernsthaft nach Landefeldern umsah.

Es war jetzt 18: 30 und ich hatte nicht mehr viel Zeit. Gegen 19 Uhr würde die Thermik endgültig zu Ende sein. Zudem sah ich im grellen Gegenlicht kaum, wohin ich eigentlich flog. Meine kleinen Lüftsprünge brachten mich aber weiter, jedes Steigen wurde von mir durch Hochziehen der Flugzeugnase beantwortet. Ich ließ das Variometer ein paar Sekunden lang jauchzen, dann drückte ich nach, nahm Fahrt auf und setzte meinen Kurs fort. Plötzlich war Heubach erreichbar und ich wurde euphorisch. Ich begann wie wild zu singen, es war unglaublich! Jetzt würde ich es immerhin bis an den Fuß des Hornberges schaffen. Zwar musste ich hart arbeiten, aber ich war inzwischen so zuversichtlich und flog zudem extrem genau, tastete mich von Aufwind zu Aufwind voran.

Und dann keimte in mir der Gedanke auf, dass ich es vielleicht doch bis auf den Hornberg schaffen könnte. Mein ganzer Körper wurde von Glückshormonen durchflutet. Nie zuvor hatte ich eine derartig euphorische Empfindung verspürt. Aber noch befand ich mich 200 Meter unter dem Gleitpfad, dazu hatte ich Gegenwind. Ich fand einen letzten Aufwind, der zu meiner großen Freude stetig zwei Meter Steigen brachte. Jetzt nicht nachlassen, sagte ich mir. Ich zählte die Höhenmeter mit. Jetzt hatte ich den Gleitpfad erreicht, jetzt war ich im Plus. Erst 20 Meter, dann 60, dann 200. Immer noch ging es ruhig nach oben. Ich genoss die Wärme im Cockpit, das Licht der im Westen untergehenden Sonne. Von Heubach wollte ich nun nichts mehr hören. Bei 400 Meter über dem Gleitpfad hörte ich auf zu kreisen, nahm Kurs auf das Hornberger Plateau und raste los. Ich fühlte mich unglaublich stolz. Dies war mein bisher weitester Flug und ich würde es zurück schaffen! Ich dachte an meine Frau, die am Boden auf mich warte, stellte den Funk wieder laut und meldete mich an der Position zur Landung.