Doch woher kommt dieser Sinneswandel? Ohne Erklärung ist die von mir hier postulierte Philosophie sicher nicht verständlich.
Ich fliege seit mehr als 20 Jahren, nicht nur Segelflugzeuge, aber meist. Die Art der Segelfliegerei, die ich in den letzten Jahren auf Deutschlands Flugplätzen kennen gelernt habe, gefällt mir nicht mehr. Diese Wahrheit ist kurz, der Rest ist Kommentar. Diese Art der Segelfliegerei hat mit meinen Jugendträumen nicht mehr viel gemeinsam. Was an vielen Orten zu beobachten ist, lässt ich in wenigen Worten sagen: Oberflächlichkeit, Dekadenz und ideologischer Fundamentalismus. Zu diesen Phänomenen möchte ich etwas sagen (und habe dazu in den vorhergehenden Blogeinträgen immer wieder etwas gesagt).
Die Dekadenz ist eine Begleiterscheinung der Übersättigung. Nicht mehr die Einlösung einer einst gefühlten Sehnsucht steht im Mittelpunkt, sondern die Erfüllung einer Verpflichtung sich selbst oder anderen gegenüber. Dieser Grundbefund erhält seine prominenteste Konkretisierung in dem seit Jahren beliebten oberflächlichen OLC-Wahn. Zugegeben: Die Idee des OLC ist so charmant wie einfach. Aber wie so viele andere charmante und einfache Ideen gibt es auch eine zweite Seite der (glänzenden) Medaille. Der OLC brachte mich - und sicher auch viele andere bis dato fliegerisch dahin dümpelnde Segelflieger - erst richtig in Schwung. Das idiotische Gerede vom "Streckenflug-Gen" möchte ich hier nicht wiederholen - ist es doch absurd, bei einer so künstlichen Angelegenheit, wie dem Segelfliegen (bei näherem Hinsehen sogar noch künstlicher als das Motorfliegen) mit biologistischen Metaphern zu hantieren (es sagt allerdings viel über die instrumentelle Rationalität derer aus, die immer wieder solchen Unsinn verbreiten). Zugeben: Durch den OLC wurde eine Art schlummernder Ehrgeiz "geweckt" (sicher kein genetisch bedingter). Der Idee des dezentralen Wettbewerbs ist es zu verdanken, dass Vorstände von Segelflugvereinen erstmals Kunststoffflugzeuge an junge Segelflieger zur Nutzung frei gegeben haben, für die man in Prä-OLC-Zeiten noch 40 Jahre lang die Pokale im Vereinsheim hätten polieren müssen. Nur um die Erlaubnis zu erhalten, die Flugzeuge anzufassen. Der OLC hat eine latente Begeisterung manifestiert. Gegenwärtig kann man dies in objektiven Zahlen und immer neuen Superlativen erfahren. Auch ich begann, zunächst unter Anleitung bereits OLC-erfahrener (heute würde ich sagen: OLC-süchtiger) meine ersten ausgedehnten Streckenflug mit einem Duo Discus, mit einer LS 4 usf. Aber in der (scheinbaren) Objektivierung der Leistungen in der Form von Punkten und Rankings besteht genau das Problem der Dekadenz (wem diese, an der sog. Kritischen Frankfurter Schule – Adorno und Horkheimer – geschulte, dialektische Sichtweise zu dumm ist, kann jetzt aufhören zu lesen).
Denn der OLC hat nicht nur Gutes bewirkt. Er hat unsere Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Gefühlswelt komplett verändert und überformt. Viele der Segelflieger mag dies gar nicht stören. Es wird viele geben, denen das noch nicht einmal auffällt. Andere werden es sogar begrüßen (diejenigen, die damit Geld verdienen, indem sie Produkte, Schulungen etc. anbieten). Wie bereits an anderer Stelle in diesem Blog gezeigt, korreliert die Neigung, sich dem Segelfliegen hinzugeben, nicht unbedingt mit ausgeprägtem ästhetischem Empfinden, sondern eher mit meist eindimensionalen, oberflächlichen und technisch-instrumentellen Rationalitäten. Wer die OLC-Regeln verinnerlicht hat und meist oder gar ausschließlich um praktische Anwendung dieser Regeln bemüht ist, der verliert einiges, ohne dass es ihm bewusst ist oder bewusst gemacht wird.
Ich persönlich habe diese Verlust von dem Moment an empfunden, als mir die verhaltensändernde Durchschlagskraft (Soziologen würden sagen: die Normativität) der OLC-Regeln bewusst wurde. Eigentlich ist es traurig: Vom ersten Flug an war mir klar, dass ich hier etwas grundlegend verändert, aber selbst brauchte ich erst einige Jahre und ein paar äußere Anlässe, bis ich mich von der Inanspruchnahme dieser Regeln befreien konnte.
Die Regeln bewirken, dass ganze Horden von Segelfliegern wie ferngesteuert durch eine Landschaft fliegen, die sich als solche gar nicht mehr wahrnehmen können. Sie bietet lediglich die Kulisse für strategische Entscheidungen und Streckenoptimierungen - am besten per Computer schon während des Fluges. Die Kulisse für das Spektakel. Es verwundert kaum, dass der OLV diese Blüte im Zeitalter der Computerspiele erlebt, gibt es doch eine grundlegende strukturelle Übereinstimmung (im Soziologendeutsch; eine Homologie) zwischen engagierter OLC-Fliegerei und dem Fliegen als Computerspiels. Beide Male ist es der datensetzende Algorithmus, der die Macht hat, nicht der Mensch. Dieser funktioniert nur als erweitertes, dezentrales, Anhängsel eines Regelkanons, der überindividuell zur Anwendung gebracht wird. Oder wie es der Soziologe Heinrich Popitz, der sich viel mit den unterschiedlichen Formen der Macht beschäftigte, auf den Punkt brachte: „Der dauernd Erniedrigte rechtfertigt seine Fügsamkeit, indem der sie in Freiwilligkeit uminterpretiert.“ Fügsam sind wir den Regeln gegenüber, die wir alle ach so gerne anwenden, weil ja alle dabei sein wollen beim großen Rechnen, das zeigt, wer der Schnellste ist im Land.
Richtig "schlimm" wird es aus meiner Sicht, weil sich dadurch nicht nur das individuelle Handeln verändert (Flugentscheidungen, Flugwege etc.), sondern auch das kollektive. Die Regeln habe eine normative Kraft entfaltet, die teilweise schon als destruktiv bezeichnet werden muss. So berichtete mir unlängst ein Segelflieger, der einen neuen Club suchte, dass er nicht aufgenommen wurde, weil er nicht „OLC-affin“ genug war. Mir selbst wurde dies ebenfalls zu „Verhängnis“: Ein Club lehnte mich ab, weil ich mich weigerte, all-abendlich meine geloggten Dateien ins OLC-Netz zu stellen. Hier wird also bereits eine Form der Selektion betrieben, bei der es mich schaudert.
Der OLC führte also bei seiner Einführung zu positiven Effekten (Mobilisierung), lässt inzwischen aber nicht-intendierte aber dennoch wenig produktive Effekte erkennen. Wer fliegt, nur um Punkte zu sammeln, verliert Erlebnisdimensionen, die sich nicht mehr zurückgewinnen lassen. Wer nur Mitglieder in seinen Verein aufnimmt, die sich OLC-konform verhalten, verliert die Diversität, die lange Zeit „gute“ Vereine ausmachte. Wer Punkte sammelt, verliert Gefühle. (Grüne) Punkte sammeln ist eine Aktivität für die Mülltonne, aber nicht für das Erleben am Himmel.
In den letzten Jahren habe ich immer wieder Piloten getroffen, die mir berichteten, dass sie nichts mehr fühlen. Sie fliegen einfach ihre Strecken ab. Mit immer besseren Flugzeugen, immer schneller. Ihre Leistung ist dabei mitnichten ein Verdienst des eigenen Talents. Diese Begegnungen haben mich traurig gestimmt. Sie erinnerten mich an den Millionär, der auf jedem Kontinent ein Segelflugzeug stationiert hatte und immer dort hin (privat-)jetete, wo er die besten Wetterbedingungen vermutete. Letztlich hat sich dies als eine Flucht vor sich selbst erwiesen. Die Intensität eines Erlebnisses hängt beim Fliegen und bei jeder anderen Sportart, nicht davon ab, ob und wie viele Punkte man am Ende des Tages durch ein Rechenprogramm zugewiesen bekomme. Dennoch machen sich viele der Segelflieger zu Marionetten dieses Algorithmus'. Sie verwechseln zwei Ebenen: die eigene Ebene ist die des Leistungsträgers (das ist das Flugzeug), die andere Ebene, ist die des Leistungserbringers (das ist der Pilot). Da viele merken, dass sie die Leistung nicht erbringen können, die im kompetetiv angelegten OLC-Kosmos zumindest prinzipiell von ihnen abverlangt wird (denn wozu sammelt man sonst Punkte, wenn man diese dann nicht vergleicht?), suchen sie nach einer anderen Strategie. Und sie finden sie dort, wo sie den Leistungsträger modifizieren. Oder anders: Eine ganze Branche lebt davon, durchschnittlichen der mittelmäßigen Piloten zu suggerieren, sie könnten sich besser plazieren, wenn sie ein besseres Flugzeug kauften (dazu: Mückenputzer, teure Elektronik etc.). Wir haben wir nebenbei eine kleine Theorie des Konsums und der Fortschrittslogik für die Segelfliegerei entwickelt.
Natürlich kann man immer komplexeres oder teureres Material kaufen, wenn man es sonst nicht schafft, seinen Traum vom 500, 700 oder 1.000 Kilometer-Flug zu realisieren. Ich verstehe das. Aber verstehen heißt nicht, einverstanden zu sein. Ich wollte dieser Dekadenz und der damit verbundenen Dehumanisierung entkommen. Ich wollte - und damit bin ich beim zweiten Begriff - dem vorherrschenden ideologischen Fundamentalismus entkommen.
Vereine sind kleine Fürstentümer, die letzten Refugien mittelalterlicher Privilegienwirtschaft. Ein Restbestand des Feudalen. Es gibt Herren und es gibt Knechte. Ich weiß, es gibt Ausnahmen! Ich kenne einige. Aber reden wird für einen Moment über den Durchschnitt: Alte Männer bestimmen, Besitzstandswahrung wohin man blickt, völlig weltfremde Anwesenheits-, Mitmach-, oder Sonstwas-Pflichtprogramme. Pharisäerhafte Doppelmoral (so erklärte mit der Vorstand eines Vereins, dass ich diesem nicht beitreten können, weil ich zu diesem Zeitpunkt schon einen eigenen Segelflieger hatte. Er vergaß nur zu erwähnen, dass er selbst sogar zwei eigene Flieger besaß – Vorstände dürfen das). Dieser ideologische Fundamentalismus ist oft auch noch mit paramilitärischem Gehabe und Wichtigtuerei verbunden. In der Summe kann man schon manchmal (nicht immer) den Eindruck erhalten, dass hier einige Personen ein ziemliches Bedürfnis nach Kompensation ausleben müssen. Ich hätte gerne repräsentative Daten zu den Berufen der Segelflieger. Mich würde interessieren, ob diese in ihrem Sonst- oder Restleben nicht genügend Anerkennung (beruflich oder privat) erhalten und sie deshalb auf dem Flugplatz so dick auftragen müssen. Ich würde gerne verstehen, warum sich freiwillig so viele erwachsene und vernunftbegabte Menschen als Hüter des heiligen Grals gebärden und einem kindischen Punktespiel anhängen.
Im Großen und Ganzen ödete es mich immer mehr an. Und deshalb suchte ich nach einer anderen Einstellung. Wie immer findet man diese, wenn man zurück an den Anfang geht, sich fragt, was einen selbst und ursprünglich an der Fliegerei fasziniert hat. Wenn man bewusst innehält und sich fragt, was eigentlich das Wesentliche und Schöne am Segelfliegen ist.
Umwege erhöhen die Ortskenntnisse. Und erst über viele Umwege kam ich zu meiner heutigen Einstellung. Nicht die OLC-Logger-Daten spielen eine Rolle, sondern, dass, was man Biologger (mein Gehirn) mit den Eindrücken macht. Am Ende unseres Lebens, soviel ist gewiss, werden uns die Daten auf dem OLC-Server nicht glücklich machen, sondern einzig und allein die hochkomplexe Gabe des Menschen, sich selbst und sein Leben (ganzheitlich) zu erinnern. Dies ist der praktische Kern der Biologger-Philosophie.
Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich spreche niemandem das Streben nach Perfektion und großen Leistungen ab. Beides bewundere ich sehr. In meiner Durchschnittlichkeit werde ich vieles nicht erreichen, was andere mühelos schaffen. Der Punkt aber ist der, ich will es auch nicht erreichen. Ich beweise mich auf anderen Gebieten, ich suche keine Ersatzbefriedigung. Ich will in Ruhe gelassen werden.
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