12. Juli 2013

Sauseschritt


Morgens noch im Büro, doch dann, endlich, ich fahre der Breg entlang Richtung Flugplatz Donaueschingen. Jedesmal wird mir wieder deutlich, wie sehr wir uns doch alles im Leben gestalten müssen. Es braucht fiat, den Willen. Wer vom Reden und Wünschen zum Handeln und Erleben gelangen will, muss einen Widerstand überwinden. Immer und überall. Vielleicht spüren wir diesen Widerstand manchmal nicht mehr. Dann sprechen wir von Gewöhnung.

Von Gewöhnung kann ich gegenwärtig beim Segelfliegen nicht sprechen. Ich komme kaum noch dazu. Ich habe die Tage nicht gezählt, an denen die schönsten Wolken am Himmel standen, in einer Sprache, die nur die Fliegermenschen verstehen können. Statt zu fliegen, saß ich zu oft in geschlossenen Räumen. Aber heute konnte ich diesen Räumen entkommen.

Zunächst war ich sehr enttäuscht. Keine Wolke am Himmel zu sehen, nichts spricht zu mir. Ich baue meinen Apis 2 dennoch auf. Wozu bin ich schließlich hier. Das Gute daran: ich lasse mir Zeit, genieße es, komme noch nicht einmal ins Schwitzen. Ich erinnere mich an die letzten beiden Jahre, da war zu viel Stress im Spiel. Das ist heute anders. Allein dafür hat es sich schon gelohnt.

Noch ein paar Liter Sprit nachtanken, dann ziehe ich den Flieger zur Startbahn. Eigentlich will ich noch warten, doch dann frage ich mich: wozu? Also mache ich mich fertig (lange Hose, Proviant) und schiebe den Flieger in die lange Bahn. Chic sieht er aus, er steht da auf der Piste, in einem Winkel zum Mittelstreifen. Bevor ich den Apis 2 gerade zum Start aufstelle, mache ich noch ein Foto.

Dann schnurre ich in den Himmel. Zunächst geht das gar nicht gut, ich denke, der Motor läuft wohl nicht richtig. Einfach kein Steigen und das Ende der Piste kommt näher. Es sind Abwinde, die mich noch nach unten drücken, ich fliege also weiter. Wo Abwinde sind, kommen auch wieder Aufwinde. Und so ist es. Plötzlich reißt es mich mit doppelter Kraft nach oben. Zur Steigleistung des Motors kommt die Thermik. Ich versuche mit laufendem Motor in der Thermik zu kreisen und steige mit 3 bis 4 Meter. Das bedeutet, dass ich entsprechend schnell oben bin und den Motor ausschalten kann. Der klappt prima ein. Und nun steige ich mühelos im Blauen.

So wird es die nächsten vier Stunden sein. Kräftige Thermik im Blauen, Basis rund 2000 Meter N.N. und immer mal wieder relativ tief. Ich taste mich in den Schwarzwald vor. Das Wasser in der Talsperre bei Linach ist grau-grün – eine komische Farbe. Nach Furtwangen traue ich mich nicht. Vor St. Georgen bin ich tief, ich schleiche mich aus dem Schwarzwald, erwische aber immer wieder kräftige Bärte, die mich zuverlässig nach oben heben.

So fühlt es sich auch an. Der Apis 2 wird wie von einer unsichtbaren Hand sanft nach oben gehoben. Man muss sich nur in diese Hand einschmiegen und dann läuft es prima. Direkt am Flugplatz Winzeln-Schramberg bin ich sehr tief, mache mir aber keine Sorgen. Ich könnte dort ja landen. Ungern allerdings, wenn ich mich an die unfreundlichen Flieger dieses Vereins und die Gespräche mit dem Vorstand auf dem Hornberg erinnere.

Zum Glück ist das nicht nötig. Ich steige und taste mich weiter, denn nun habe ich ein verheißungsvolles Ziel. Am Westrand der Alb entstehen Wolken. Diese sehen aus meiner Perspektive unendlich weit weg aus, aber sie sind pure Magie. Dort will ich sein, dort will ich fliegen, dort will ich hin. Fast glaube ich, dass ich es geschafft hätte. Aber die Wolke, die ich antesten wollte, die Wolke die in der geringsten Entfernung zu mir stand, sie löst sich vor meinen Augen auf. Ich fasse nicht, was ich sehe. Es geht so schnell, just in dem Moment, in dem ich eigentlich „unter“ der Wolke sein sollte, ist da keine mehr.

Also suche ich im Blauen weiter. Steige und bin dann irgendwann doch an der Basis einer Wolke. Es ist nun 5 Uhr. Der Himmel sieht immer besser aus. An Landen ist überhaupt gar nicht zu denken. Die Wolken verbinden sich zu einer Straße, die vom Bodensee bis vor Stuttgart reicht. Fünf mal reite ich hin und her. Fünfmal, bis ich endlich genug habe. Ich düse im Sauseschritt, fast ohne Kreise, entlang der Straße, unter einer traumhaften Basis von 2500 Metern. Alles, was vorher mühsam war, ist nun leicht. Es ist wie eine Metapher auf das Leben insgesamt. Ich bin lange genug dran geblieben, nun werde ich belohnt. Ich habe mich mühsam „emporgearbeitet“, nun genieße ich die Früchte des Erfolges.

Immer mehr andere Segelflieger tauchen auf. Im Blauen ist mir nur einer begegnet. Nun liebäugeln sie alle mit dem Sauseschritt unter der gigantischen Wolkenstraßen. Jedesmal wenn meine Vernunft mir sagt, dass es doch für heute reicht, drehe ich noch einen Kreis, sehe die wunderschön entwickelten Himmelsskulpturen, und dann siegt die Unvernunft, die mir einflüstert: Noch eine Runde, noch einmal bis dorthin und dann zurück. Wie ausweglos das alles ist. Nichts wird sich davon festhalten lassen. Es wird eines Tages, schon morgen vielleicht, egal sein, ob ich noch einmal zu dieser Wolke über der Donauschlucht geflogen bin oder nicht. Aber das Leben realisiert sich nicht nur in der Bilanz und im Rückblick, sondern auch im Hier und Jetzt. Und diese Wolke schreit mich an mit ihrer Schönheit, ihren klaren Konturen, jetzt will ich es wissen, wie fühlt es sich darunter an? Reißt sie mich an sich oder trägt sie mich sanft nach oben? Jede Wolke ist eine Gelegenheit, diese und andere Fragen zu stellen, reiner Vorwand, um den Spieltrieb zu verwissenschaftlichen, denn nur darum geht es, spielen, Luftschlösser bauen und mit Wolken spielen.

Nach der fünften Runde ist der Rausch vorbei. Ich gleite durch das immer diffuser werdende Wolkenmeer, dass sich in das Licht der untergehenden Sonne hüllt, die mehr und mehr blendet. Dreißig Kilometer bis Donaueschingen gleite ich ab und schaue mal rechts, mal links aus dem Cockpit. Mühelos erreiche ich aus dieser Höhe den Platz und baue mit Kurvenwechseln die Höhe ab. Kurz nach 19 Uhr lande ich, eine samtweiche Landung, vielleicht die beste bisher, endlich bin ich einmal zufrieden.