21. Juli 2013

Tagesschau


Pünktliche Landungen sind zwar keine eigene Wettbewerbsdisziplin. Gäbe es diese, hätte ich heute wohl den Vogel abgeschossen. Pünktlich zum Ende der Tagesschau landete ich um 20:15. In den vielen Jahren meiner Fliegerei war dies der zweitlängste Flug, vielleicht sogar der längste, so genau führe ich kein Buch. Irgendwann in grauer Vorzeit, kann ich mich an einen Flug mit einer K-8 in der Umkehrthermik über Würzburg erinnern. Das war am Abend.
Heute lande ich nach über 7 Stunden Flugzeit und einen Flug quer über Schwarzwald und Alb. Kilometerangaben mache ich den fragenden Fliegern am Boden keine. Schon lange nicht mehr. Das würde nicht zur Philosophie des UL-Segelfliegens passen. Wer einen Apis 2 sein Eigen nennt, und dann doch nur die eindimensionale OLC-Logik (viel und weit = besser und schöner) reproduziert, hat nichts verstanden.
Vor dem Start kam ein Segelflieger zu mir und stellte sich vor. Wir plauderten ein wenig, was selten genug vorkommt, da mich die meisten Segelflieger eher meiden, da in ihren Augen ein Apis 2 kein vollwertiges Segelflugzeug ist. „Ich beobachte dich schon eine Weile“, sagte er, „du machst dein eigenes Ding: kommst, baust alleine auf, fliegst, landest, baust ab und fährst“. So schlicht, so treffend, so wahr. Mit einem Apis 2 kann man sein eigenes Ding machen. Das Problem besteht lediglich darin, zu wissen, worin es besteht – wie im Leben. Wer sich immer nur mit anderen vergleicht (und der OLC ist nichts als eine gigantische Vergleichs- und Normierungsmaschinerie), der wird nie sein eigenes Ding machen. Wer immer nur in die Fußstapfen anderer steigt, kann nie einen eigenen Weg finden.
Von dieser Erkenntnis angetrieben, war es war aber noch ein langer Weg bzw. Flug bis zu diesen späten Wolken. Zunächst folge ich der Spur, die mich in den Schwarzwald zieht. Aber das klappt nicht so gut, wie ich hoffe. Über dem Kandel verliere ich viel Höhe, sehr viel, schon schaue ich mich nach Außenlandefeldern um (der Motor soll ja gedanklich gar nicht existieren, und das ist gut so). Ich stelle mir vor, in der Nähe von Furtwangen, meinem Wohnort zu landen. Keine gute Vorstellung. Irgendwie ziehen die Wolken nicht. Über dem Kandel hängen nur Fetzen herab. Ich taste mich vorsichtig aus dem Schwarzwald heraus, wobei ich mich an Bodenmerkmalen orientiere. Ich sehe unser ehemaliges Haus im Linachertal, dann fliege ich über das Uracher Tal. Das fühlt sich an, wie Luftwandern. Aber so tief sollte man dabei nicht sein, also konzentriere ich mich, rufe alle meine Gemeinformeln zur Thermiksuche und Selbstmotivation ab. Und siehe: es wirkt. Wo so viel Sinken ist, muss es auch steigen. Gut, wenn man da noch hinkommt.
Und dann passiert etwas, das ich mir selbst kaum erklären kann. Am Rand des Schwarzwaldes, so genau kann ich mich schon jetzt nicht mehr erinnern, packt mich eine Wolke und reißt mich mit gewaltiger Wucht nach oben. Bei 4 m/s würde ich sagen, das sind Engel, die schieben. Aber über mehrere Kreise lang zeigt mein Variometer mehr als 8 m/s Steigen an. Das fühlt sich an, wie die Hand Gottes. Selbst in Australien, über dem hießen Outback, hatte ich nicht so gewaltige Steigwerte. Die Technik funktioniert, die Werte müssen stimmen. Mitten in diesem Vertikalschub kreist mein Apis 2 ruhig und gelassen, keine Turbulenz, nichts. Ich spüre nur, wie das ganze Flugzeug gepackt und hochgezogen wird. Wie an einem Kran, der zuviel Kraft hat.
Ab diesem Moment läuft es gut. Immer wieder finde ich zuverlässige und starke Aufwinde. Ich quere die Baar und steige in die Alb ein. Bei einer Basishöhe zwischen 2.500 und 2.800 Metern ein Kinderspiel. Es ist mühelos, leicht, ein Spiel. Meine Gedanken können sich lösen. Schon träume ich von meinem Flug nach Los Angeles, davon mit dem Mietwagen die kalifornische Küste hinab nach San Diego zu meiner Konferenz zu fahren. In Motels am Straßenrand zu übernachten. Dafür immer wieder den Pazifik zu sehen. Komisch, wozu das menschliche Gehirn fähig ist. Während ich einerseits bekannte Flugwege aus einer auch für den Apis 2 komfortablen Höhe abfliege, dabei nur in Ausnahmefällen kreisend, denke ich an Kalifornien. Während ich mich dem Hornberg nähere und nostalgische Gefühle aufkommen, vermischt mit Wehmut, entsteht eine neue, auf die Zukunft gerichtete Energie. Vorfreue.
Der Tag vergeht in der Luft, wie sonst ein Tag im Büro vergeht. Unter und zwischen Wolken, die sich immer wieder in ihrer Schönheit überbieten. Was kann man alles aus einem solchen Tag machen? Irgendwann wende ich, ab jetzt schiebt mich der Wind, der mich vorher bremste in Richtung Süden. Je später es wird, desto ausgeprägter werden die Wolken und die Wolkenstraßen. Flieger kreuzen meinen Weg, jeder sucht seine Spur. Über mir zieht ein Flieger der offenen Klasse mit langen dünnen Flügeln seine Bahn. An anderer Stelle, in der Nähe eines Segelfluggeländes kreist unter mir ein Kranich, einer rot-weiß lackierter Doppelsitzer aus der Kategorie Oldtimer. Ich habe ich schon mehrfach auf der Alb getroffen. So groß ist die Spannbreite an Gerät, dazwichen mein Apis 2 und ich.
Immer dunkler werden die Wolkenunterränder. Die Wolken laufen breit. Ich befinde mich in riesiger Höhe unter einem schwarzen Deckel, der über mich schwebt und mich hebt. Ab und zu reißt dieser Deckel auf. Dann strömt gleißendes Licht in meine Spur. Ich fühle mich wie in einer Luftkathedrale. Ein kleiner Mensch im Dunkel inmitten des ganz Großen, der Übermächtigen. Und dieser Mensch sucht seine Richtung. Durch das Fenster der Kathedrale dringt gebündelt gleißendes Licht ein und entzückt den kleinen Menschen. Die Fenster der mittelalterlichen Kathedralen waren frühe Medien, bewusst so konstruiert, um Menschen ein Gefühl für Transzendenz zu geben. Was wäre wohl passiert, wenn schon damals Menschen hätten fliegen können. Meine Luftkathedrale ist ungleich größer als jeder Dom, ihre Fenster zwar nicht aus bunten Mosaiken zusammengesetzt, dafür aber von einer Lichtintensität, die unvergleichbar ist. Die langsam tiefer sinkende Sonne dringt in einem Winkel durch diese sich immer wieder öffnenden Fenster, die ein tiefes Gefühl von Ruhe bei mir hinterlassen. Teil dieser Welt zu sein, ist so unvergleichlich anders, als Teil der Welt zu sein, die wir sonst alle bevölkern.
Nun erkenne ich langsam, dass dies ein besonderer Tag sein wird. Die dunklen Wolkenteppiche versorgen mich auch zu später Stunde immer noch zuverlässig mit Energie. Alles scheint hier umgekehrt: Ich wandle nicht auf dem Teppich, ich fliege unter dem Teppich.
Also gleite ich hin und her, immer der möglichen Rennstrecken folgend. Und erfliege ganz neue Geschwindigkeitsbereiche mit meinem Apis 2, das habe ich mich bislang nicht getraut. Zwischendurch rufe ich meine Frau an, um ihr zu sagen, dass ich noch fliege. Ich möchte nicht, dass sie sich Sorgen macht. Und ich fliege tatsächlich immer weiter und länger.
Bald bin ich wohl der einzige Segelflieger weit und breit. Auf dem Klippeneck sehe ich viele Flieger am Boden. Warum fliegen sie nicht? In der Ferne kreist noch ein Einsamer, noch ein Betender, der wie ich diese Kathedrale zu schätzen weiß. Jetzt ist auch er weg, ich bin allein. Und das ist ein durch nichts zu übertrumpfender Genuss. Keine Luftideoten, die mich beinahe über den Haufen fliegen, dieser sakrale Raum gehört allein mir. Ich genieße also jede Minute, weil ich weiß, dass solche Flüge nicht jedes Wochenende möglich sind.
Langsam, fast ohne Kreise, gleite ich die Höhe ab. Ich könnte noch länger fliegen, will aber (als UL!) landen, bevor der Platz schließt. Pünktlich zum Ende der Tagesschau lande ich. Aber statt den Abendfilm im Fernsehen zu schauen, gibt es noch viel zu tun. Diesen Flug muss ich so langsam abklingen lassen, wie ich am Ende die Höhe abgeglitten habe. Das ist eine viel größere Kunst, als Punkte in eine Tabelle einzutragen und sich dann mit anderen zu vergleichen.